Portraet
Namenszug
Titelbild Sanguis B.

Leseprobe Sanguis B.

Hier das erste Kapitel von Sanguis B. Wer nicht online lesen möchte, kann es auch als pdf herunterladen.


20./21. Oktober

Die Mordserie reißt nicht ab! Die Polizei entdeckte gestern bereits den zehnten Toten seit Beginn des Monats.
Angesichts der blutrünstigen Taten wird die Debatte um die innere Sicherheit zur Farce! Wovor, Herr Innenminister, sollen uns diese Bubis von der Polizei denn bitteschön schützen können? Die mögen ja für Verkehrskontrollen taugen. Aber hiermit werden sie mit Sicherheit nicht fertig! Die Mörder schrecken auch vor den brutalsten Verstümmelungen nicht zurück! Hier rächen sich die Budgetkürzungen der vergangenen Jahre.
Merkwürdigerweise gab es immer genug Geld für den Ausbau des Bonner Yachthafens. Vielleicht, weil er sich im Bundesbesitz befindet?
Der jüngste Mord ereignete sich in Chorweiler. Die Leiche ist grässlich verstümmelt, der Kopf vollkommen zerschmettert. Unsere Anteilnahme gilt den Angehörigen des Vaters von fünf Kindern.

- Dom Express -


Der Schmerz zog an jeder Faser seines Körpers. Am stärksten war es in seinen Unterarmen. Es fühlte sich an, als ob jemand Fäden in seine Venen gesteckt hätte, mit dicken Kugeln an den Enden, und jetzt daran zog, sodass diese Kugeln sich durch die Ellbogenbeugen in Richtung der Hände bewegten. Seine Adern brannten. Die Haut schien von Tausenden kleiner und größerer Nadeln durchbohrt. Seine Rückenmuskulatur kontrahierte. Schultern und Hüften näherten sich und der Bauch spannte einen Bogen. Endlich konnte er schreien.

Sein Körper zuckte. Thomas hatte keine Kontrolle mehr über ihn; von ruckartigen, eruptiven Bewegungen hin und her gerissen wand er sich auf dem Boden.

Dann lag er still. Vielleicht hatte der Schmerz aufgehört, vielleicht erreichte er ihn aber auch einfach nicht mehr. Was er nun spürte – abgesehen von einer Taubheit seiner Glieder – war ein Drücken in seinem Schädel. Als ob etwas darin steckte und hinaus wollte.

Nach der vorhergehenden Marter war es zunächst nicht wirklich schlimm, nur befremdlich. Aber es steigerte sich. Der Druck nahm zu. Unter den Augen, vor denen rote Flammen tanzten und ihm die Sicht nahmen. Und vor allem im Ober- und Unterkiefer. Thomas wimmerte. Er hörte ein lautes Knacken, wie von brechendem Eis, brauchte aber eine Weile, bis er erkannte, dass es von seinen eigenen Knochen herrührte, die sich anscheinend verschoben. Nach den Schmerzen von vorhin, die alles andere überlagert hatten, schob sich nun ein anderes Gefühl in den Vordergrund: Angst.

Er hatte große Angst. Ihm war nicht klar, was hier mit ihm geschah, er fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Irgendetwas ging mit ihm vor, das er nicht verstand. Thomas versuchte, sich daran zu erinnern, wo er sich befand, aber es gelang ihm nicht. Er begegnete der aufsteigenden Panik, indem er sich in Logik und Rationalität flüchtete.

Er wusste nicht, wo er war, und er wusste nicht, was mit ihm geschah. Damit musste er sich zunächst abfinden. Immerhin wusste er, wer er war: Thomas Baleier, 27 Jahre alt, er studierte Alte Geschichte in Köln im zwölften Semester.

Vielleicht hatte ihm jemand Drogen gespritzt, die jetzt Halluzinationen verursachten, überlegte er, einen Horror-Trip. Denn es konnte unmöglich wahr sein, dass die Knochen seines Gesichtes sich verschoben.

Oder vielleicht hatte er einen schweren Unfall gehabt und sein Verstand spielte deswegen verrückt.

Das unheimliche Knirschen hatte aufgehört und der Schmerz in seinem Gesicht flaute allmählich ab. Auch das rote Feuer vor seinen Augen hatte nicht mehr die ursprüngliche Intensität; er sah einzelne, dunkle Stellen dazwischen. Er atmete tief ein und aus und schluckte. Thomas würde ganz ruhig bleiben, egal, was geschah, nahm er sich vor. Bewusst schloss er die Augen. Vielleicht würden sie sich dann wieder beruhigen, überlegte er.

Es kostete Überwindung, die Hand zu heben und mit den Fingerspitzen seine Wange zu betasten. Im Gesicht fühlte er den Druck nicht, aber das mochte an der gewaltigen Schwellung liegen, die er vorsichtig erkundete. »Gott, ich muss ja schön aussehen!«, murmelte er.

»An den würde ich mich an deiner Stelle nicht mehr wenden«, hörte er eine freudlose Stimme.

Als er die Augen öffnete und zwischen den tanzenden Funken eine weibliche Silhouette in der Tür stehen sah, erinnerte er sich wieder, wie dieser Abend begonnen hatte.


Wenn es um Sex ging, verstand Wilhelm keinen Spaß.

Thomas rieb sich das Kinn. Es schmerzte immer noch. Er fragte sich, wann er das letzte Mal so richtig auf die Fresse bekommen hatte und musste bis in seine Grundschulzeit zurückdenken, um die Antwort zu finden.

Er war wütend. Klar, Doro war Wilhelms Freundin, nicht seine. Aber deswegen hätte Wilhelm nicht so ausrasten müssen. Natürlich war es eine doofe Idee gewesen, ihn zu fragen, welche Farbe Doros Schamhaare hatten. Aber die Party war gerade gut im Gange gewesen und Thomas hatte zu viel getrunken gehabt.

Er wusste selbst, dass er keine Konkurrenz für Wilhelm war. Leider. Er wäre gern mit Doro zusammen gewesen; nicht nur ihrer großen Brüste wegen, die ihm schon vor einem Jahr aufgefallen waren, als er sie kennen gelernt hatte. In dieser Hinsicht musste Doro eigentlich nur vor Lara Croft kapitulieren.

Aber abgesehen davon, dass Thomas nicht der Typ war, um Mädchen anzusprechen, war dann ja auch kurz darauf Wilhelm aufgetaucht. Der war nicht so schlaksig wie Thomas und auch nicht geschlagen mit einer Haarfarbe, die an braunen Matsch erinnerte. Erst Recht studierte er nicht Alte Geschichte, ohne sichtbaren Fortschritt und mit dem Studienziel »Arbeitslosigkeit«, sondern BWL. Etwas farblos zwar, aber solide und anscheinend mit so gutem Erfolg, dass er aus der Masse herausstach. Und statt den Eltern auf der Tasche zu liegen, jobbte Wilhelm in einer Abteilung von Ford, die irgendetwas mit Kontrolle zu tun hatte und wohl wichtig war, so wie alles irgendwie wichtig war, was Wilhelm tat. Das wurde besser bezahlt als Thomas' Gelegenheitsjobs als Kellner oder Zeitungsausträger, weswegen Ich-kann-alles-Wilhelm auch nicht mit einem Fahrrad vorlieb nehmen musste, sondern Doro mit einem alten Golf zu den Parties kutschieren konnte. Zurück fuhr dann immer Doro, klar, der zukünftige Topmanager wollte ja was trinken. Warum ließ sie sich eigentlich dazu herab, seinen Chauffeur zu spielen? Sie war doch sonst so selbstbewusst! Thomas runzelte die Stirn.

Er trat gegen eine leere Kölsch-Dose. Die U-Bahn ließ mal wieder auf sich warten. Missmutig kramte Thomas sein Handy aus dem Bundeswehr-Rucksack, in den er die Unterlagen zum Seminar über Bestattungsriten im klassischen Griechenland gestopft hatte. Und die Bücher zu einigen anderen Seminaren auch. Wenn er sich überlegt hätte, was er wirklich brauchen würde, bevor er das Haus verließ, hätte er das Gewicht seines Rucksacks sicher auf ein Drittel reduzieren können. Aber er war nicht der Typ dazu, jeden Abend alle Bücher und Mappen auszupacken, sauber abzulegen und die Sachen für den nächsten Tag geordnet in seine Tasche zu stecken. Er neigte dazu, den ganzen Kram einfach in eine freie Ecke zu pfeffern und am nächsten Morgen zwischen zwei Schluck O-Saft zusätzlich die Sachen hinein zu stopfen, die er noch brauchen würde und von denen er annahm, dass sie noch nicht drin waren. Bis das Ding dann so schwer wurde, dass er es komplett ausschüttete und das Spiel von vorn begann.

Sicher nicht die Arbeitsweise eines Studenten, der einer großen Zukunft als Akademiker entgegensah. Umso weniger konnte Thomas einem Vergleich mit Wilhelm standhalten, und umso weniger hatte Wilhelm das Recht, ihm einen Kinnhaken zu verpassen, nur, weil er eine dumme Bemerkung gemacht hatte.

Zum fünften Mal an diesem Tag wählte er Wilhelms Eintrag aus dem Nummernspeicher. Sieben Klingelzeichen. Dann meldete sich die Voicemailbox.

Thomas wurde allmählich wirklich wütend. Bestimmt sah Wilhelm seine Nummer im Display und ging dann nicht ran. Er hatte wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen, aber damit würde Thomas ihn nicht durchkommen lassen! Oh nein, so einfach nicht. Er wollte eine Entschuldigung, und die würde er sich holen.

Bei Doro war auch niemand ans Telefon gegangen. Aber das musste nichts bedeuten. Sie war die letzten Tage über krank gewesen. Da sie Journalistik studierte und nebenbei bei der Zeitung jobbte, war sie heute wahrscheinlich unterwegs, um den Rückstand aufzuholen. Es kam oft vor, dass sie den ganzen Tag über auf irgendwelchen Veranstaltungen war, über die sie dann Artikel schrieb. Das führte zwar dazu, dass sie nicht die fleißigste Vorlesungsbesucherin war, aber dafür bekam sie schon eine Menge praktische Erfahrung. Oft schaltete sie zu solchen Anlässen auch ihr Handy ab – wer wollte schon, dass es bei einer Lesung oder einem Vortrag auf einmal klingelte? Solche Störungen waren umso weniger willkommen, wenn man den Referenten nach der Veranstaltung für ein Interview gewinnen wollte.

Thomas überlegte, wen er noch anrufen konnte, wenn Doro schon nicht erreichbar war. Von der U-Bahn war noch immer nichts zu sehen.

»Epi?«, fragte er, als die Verbindung hergestellt war. Immerhin war er nicht der letzte Mensch in der Stadt! »Hast du eine Ahnung, wo Wilhelm steckt? – Ja, klar, ich weiß, dass er Doro besuchen wollte. Aber das war doch schon gestern. Du hast also auch nichts weiter gehört?«

»Nein, keine Ahnung. Ich hab' ein paar Mal probiert, Doro anzurufen, aber ich habe sie nicht erreicht. Eigentlich waren wir heute Nachmittag verabredet.«

»Sie wird für die Zeitung unterwegs sein.«

»Nein. Die haben sie nicht gesehen. Ich hab' angerufen; die sind ziemlich sauer, weil sie sich nicht krank gemeldet hat, obwohl sie jetzt drei Tage nicht gekommen ist.«

Doro war sicherlich nicht sehr zuverlässig. Auf der anderen Seite sah es ihr nicht ähnlich, ihren Job zu riskieren.

Das Quietschen der Gleise kündigte den Zug an, dessen Lichter kurz darauf um die Kurve bogen. »Hör zu«, meinte Thomas, »ich muss jetzt los. Du hast also auch nichts von Wilhelm gehört? – Okay. Wir sehen uns nachher, ich hol' dich im Institut ab.«

Epi warf sich mit ihren 22 Jahren mit dem ganzen Elan, den man Medizinern nachsagte, in das Studium. Da betrachtete Thomas es als seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie wenigstens ab und zu das medizinische Labor verließ. Für den späteren Abend hatten sie sich zum Kino verabredet, die Karten hatte er schon besorgt.

Thomas nahm die Menschen in der U-Bahn kaum wahr. Wie von einer Automatik gesteuert hielt er ohne bewusstes Nachdenken auf einen freien Sitzplatz zu. Die Stadt zog am Fenster vorbei, aber er sah nur Wilhelms Gesicht. Es wurde von Doros abgelöst, was bei ihm ein drückendes Gefühl im Solarplexus erzeugte. Warum ausgerechnet Wilhelm, dachte er. Willst du denn später wirklich dauernd hinter deinem Herrn und Meister her reisen, wenn er alle zwei Jahre eine neue Stelle annimmt? Du hast doch sowieso nichts von ihm, wenn er 60 Stunden in der Woche arbeitet – die Wochenenden nicht mitgerechnet!

Waren denn wirklich die Reste von Wilhelms Zeit wertvoller als all das, was Thomas zu bieten hatte?

An dieser Stelle überlegte er lieber nicht weiter, denn er wusste selbst, dass er wenig finden würde, was er tatsächlich zu bieten hatte.

Es war nicht so, dass er sich wirklich Sorgen um Doro gemacht hätte. Dafür sah er sie zu sehr als die selbstbewusste Frau, die alle Probleme mühelos löste – wenn sie überhaupt welche hatte. Eher schon sah er die Tatsache, dass weder er noch Epi in den letzten drei Tagen etwas von ihr gehört hatten, plötzlich als gute Ausrede dafür an, bei ihr vorbei zu schauen. Und wenn Wilhelm da wäre – na, umso besser!

Also stieg Thomas vier Stationen früher aus und machte sich auf den Weg. Überall lag das tote Laub am Straßenrand, manchmal zusammengeweht zu kleinen Haufen.

Die Kälte der Herbstluft vertrieb seinen Ärger. Je weiter er kam, umso unsinniger kam ihm sein Vorhaben vor. Schon jetzt war ihm klar, dass er mal wieder nicht wissen würde, was er sagen sollte, wenn Doro die Tür aufmachte. So wie immer, wenn er Doro gegenüberstand. Aber einfach umdrehen und zurückgehen zur U-Bahn – das wollte er auch nicht. Wilhelm würde an meiner Stelle einfach hoch gehen und sich nichts dabei denken.

Er atmete tief durch. Dann fingerte er wieder das Handy hervor. Im Schein einer Straßenlaterne switchte er solange durch die Menüs, bis Doros Name dunkel unterlegt im Display stand.

Es klingelte zweimal, dreimal, vier... »Hallo?«

Es klang ungefähr so, als ob Doro zu viel geraucht hätte und mehr hustete als sprach. Wahrscheinlich war sie also tatsächlich krank und hatte angeschlagene Stimmbänder.

Er setzte sich wieder in Bewegung. »Doro? Hier Thomas! Ich dachte, ich besuch' dich mal!«

Schweigen. Dann: »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist ...«

Thomas stutzte. Was sollte das denn heißen? »Warum? Hast du was Ansteckendes?« Er versuchte, es wie einen spöttischen Witz klingen zu lassen.

Wieder eine Pause, in der Statik knisterte. »So könnte man es auch nennen ...«

»Kein Problem! Ich bin selbst ein Virus, das weißt du doch! Mich kann nichts anstecken!« Er probierte ein Lachen.

Es ging ihm auf den Geist, dass Doro sich so viel Zeit mit den Antworten ließ. »Ich weiß wirklich nicht, ob das eine gute Idee ist ...«

»Warum denn nicht? Ich bleibe nur ganz kurz!« Wahrscheinlich war Wilhelm da. Immer wieder Wilhelm! Thomas war jetzt wieder ausreichend wütend, um schnellere Schritte zu machen.

Noch eine Pause. »Wenn du meinst ...«

»Ich meine! Außerdem bin ich schon da!«

Energisch schob er die Haustür auf. Zwei Schritte später war er vor dem Fahrstuhl.

»Na gut.« Es klickte. Doro hatte aufgelegt.

Im siebten Stock sah er schon an dem hellen Lichtschein, dass sie die Tür angelehnt hatte. Er klopfte gegen das Holz und rief nach ihr. Als er keine Antwort erhielt, schob er das Türblatt sanft auf, als würde er befürchten, bei etwas Verbotenem erwischt zu werden.

Links hing ein übergroßes Che Guevara-Poster in dem kleinen Gang – sie studierte im Nebenfach Politik. Normalerweise brannten hier drei Deckenstrahler unpassend hell in den Augen, aber Doro hatte das anscheinend endlich erkannt, denn bei zweien waren die Glühbirnen herausgedreht worden.

Thomas stellte den Rucksack vor den kleinen Schuhschrank und schob die Tür zu, die mit einem metallischen Klacken einrastete. Beiläufig knöpfte er seine Jeansjacke auf. Eigentlich wollte er geradeaus in Doros Wohn-und Arbeitszimmer gehen. Als er einen kurzen Blick nach links in die Küche warf, versuchte er instinktiv, einen Schritt zurück zu weichen und krachte hart mit dem Rücken gegen die Wand. »Scheiße!«, schrie er. Sein Herzschlag setzte aus.

Er musste eine ganze Weile so gestanden haben, als er Doros »Ich habe doch gesagt, dass es wohl keine gute Idee ist ...« von irgendwo ganz weit weg hörte. Trotzdem konnte er sich nicht erinnern, geblinzelt zu haben. Seine Augen brannten, aber er konnte sie weder abwenden noch schließen.

Mehrmals setzte er zum Sprechen an. Alles, was er dann hervorbrachte, war ein ersticktes: »Doro, was ist hier passiert?«

Auf dem gekachelten Fußboden der Küche lag Wilhelms Leiche auf dem Bauch. Der linke Arm war halb ausgestreckt, der rechte lag verdreht auf seinem Rücken. Sein Kopf war nach links gedreht, etwas weiter, als es eigentlich hätte möglich sein sollen. Der Hals war eine einzige Wunde. Fleisch hing in Fetzen heraus, Knochen schimmerten weiß. Eine kleine, rotbraune Lache befleckte den Boden.

Nachdem Thomas' Verstand stillgestanden hatte, geriet er in hektische Bewegung, als sein Herzschlag wieder einsetzte. Was sollte er jetzt tun? Schreien wäre eine großartige Idee, oder auch sich übergeben, wie Hauptfiguren in Filmen das immer in solchen Situationen taten. Beides wollte ihm nicht gelingen. Dann kam mit einem Mal der ganz rationale Gedanke, dass Doro wohl gerade in großen Schwierigkeiten war. Eine Leiche lag in ihrer Wohnung. Wahrscheinlich war hier sogar ein Mord geschehen. Ein Schaudern lief über Thomas' Rücken. Versteckte sich vielleicht ein Mörder hier bei Doro? Natürlich! Deswegen hatte sie nicht gewollt, dass jemand nach ihr sah.

Langsam wandte er den Kopf nach rechts, zum Wohnzimmer. Die Tür stand auf, aber dahinter war es dunkel. »Willst du nicht hereinkommen?«, hörte er Doro. Diese falsche Stimme ... Er schluckte.

Und dann wurde er wieder wütend. Nicht auf Wilhelm diesmal, sondern auf sich selbst. Warum konnte er nicht ein Mal mutig sein? Das war jetzt vielleicht die Chance seines Lebens. Ein Mal mutig sein. Wann bekam man schon einmal die Gelegenheit, die Frau zu retten, die man liebte? Natürlich war das blöd. Er hätte jetzt flüchten und die Polizei rufen sollen. Aber wenn er sie wirklich retten könnte – dann hätte er ein Mal etwas geleistet. Ein Mal! Ein Mal mehr, als er für sein Leben erwartete.

Er wollte nicht immer ein Verlierer sein.

Er hatte sich entschieden. Er griff den Regenschirm, der an dem Schuhschrank hing, und stellt sich vor, wie man ihn als Keule benutzen oder seine Spitze verwenden konnte, um damit nach jemandem zu stechen.

Es war idiotisch. Aber er wollte es.

Als er in das dunkle Zimmer trat, lächelte er sogar.

Er sah nur eine unglaublich schnelle, verschwommene Bewegung. Dann warf ihn etwas zu Boden.

Bevor er verstand, was geschah, schlug Doro ihre Reißzähne in seinen Hals.


Die Erholung kam schnell. Binnen weniger Minuten hatte sein Blick sich vollständig geklärt.

Der Raum war dunkel bis auf das wenige Licht, das aus dem Gang hereinfiel, aber Thomas konnte seine Umgebung dennoch gut erkennen: das abgewetzte Sofa – die IKEA-Stühle – die Bücherregale mit den dicken Schinken darin – der Schreibtisch mit dem alten Computer – das Telefon. Doro stand im Türrahmen und sah ihn an. Er nahm sie nur als Silhouette wahr, weil sie das Licht im Rücken hatte, aber den Rest der Einrichtung sah er so deutlich, als wenn es heller Tag gewesen wäre. Und doch sah er alles irgendwie ... anders ... Er hatte einmal durch ein Restlichtverstärker-Fernglas geschaut, das war vergleichbar gewesen. Aber während bei dem Gerät alles mehr oder weniger helle Grünschattierungen gewesen waren, lag jetzt über allem ein roter Schleier, unter dem die eigentlichen Farben zu erkennen waren.

Thomas stöhnte, als er sich auf dem Boden abstützte. Nicht, weil es ihn angestrengt oder Schmerzen verursacht hätte, sondern weil er erwartete, dass es das hätte tun sollen. Die Schmerzen waren fort. Vollständig. Auch in seinem Gesicht.

Verblüfft sah er an sich herunter. Irgendeine dunkle Flüssigkeit hatte seinen Pullover getränkt. Eine wachsame Instanz in seinem Verstand bewahrte ihn davor, darüber nachzudenken, worum es sich dabei wohl handeln könnte. Aber das gelang nicht lange. Seine Hand lag in einer Lache derselben Flüssigkeit. Angewidert verzog er den Mund. Blut.

Fragend sah er zu Doro hinüber.

Sie löste sich aus der Tür und ging zum Sofa. Ihre Schritte wirkten unsicher.

Als sie sich setzte, konnte er ihr Gesicht erkennen. Unwillkürlich fuhr seine Hand zu seiner eigenen Wange.

Ja, auch er hatte diese – Wulste. Sie begannen unter den Schläfen und zogen sich in einem leichten Bogen hinab bis knapp außerhalb der Eckzähne des Oberkiefers. Und die Kiefer ... sie waren irgendwie ... größer geworden. Vielleicht etwas breiter, als sie vorher gewesen waren. Auf jeden Fall aber viel kräftiger. Als er mit der Zunge seine Mundhöhle abtastete, merkte er, dass er keine flachen Zähne mehr hatte. Die Schneidezähne waren unnatürlich scharf, die Eckzähne mindestens doppelt so groß wie vorher. An sie schlossen sich weitere spitze Zähne an; die hinteren Backenzähne waren zusammengewachsen und bildeten eine scharfe Kante. Die Lücke, die er gehabt hatte, seit ihm mit 14 Jahren ein Zahn gezogen worden war, hatte sich geschlossen.

Er war erstaunt darüber, dass er nicht erschrak. Vielleicht hatte sein Unterbewusstsein sich schon während der Verwandlung damit abgefunden.

Doro dagegen sah sehr verunsichert aus. Sie konnte ihn kaum anblicken.

Er atmete tief ein und aus. »Doro – Doro, was ist hier passiert? Was bist du – was sind wir? Was ist mit mir geschehen?« Den letzten Satz schrie er.

»Ich weiß es nicht!«, rief sie verzweifelt. »Mensch, ich weiß es nicht! Ich weiß es doch auch nicht!« Wütend warf sie den Kopf zur Seite und sah zum Fenster. Thomas fiel auf, dass die Scheibe mit schwarzer Farbe bemalt war. Man konnte nicht hinaus schauen.

Er nickte. Wenn er hier etwas herausfinden wollte, dann musste er ruhig bleiben, erkannte er. Wo sollte er anfangen? »Doro, warst du das, die – die mich – angefallen hat?«

Sie blickte ihm in die Augen, mit dieser Mischung aus Frage, Abwarten, Beleidigtsein, Verletzlichkeit und Wut, die nur Frauen beherrschen. »Ja!«, schnappte sie trotzig.

Er leckte über seinen Mundwinkel. »Und Wilhelm – ist der auch ...?«

Sie schnaubte. »Ich habe ihn auch angefallen, ja. Aber er ist tot. So wie Sandra auch, wenn du es genau wissen willst.«

»Sandra?«

Doro machte eine vielsagende Geste mit dem Daumen über ihre Schulter, hinter das Sofa.

Thomas nickte. »Warum bin ich dann nicht auch ... Hast du mir dein Blut zu trinken gegeben oder so was?«

»Bin ich bescheuert?«, schrie sie. »Ich weiß nicht, warum es sie erwischt hat und dich nicht – oder umgekehrt ... Ich wollte nicht, dass du kommst! Mensch, ich hab' dir doch gesagt, dass du nicht kommen sollst! Aber irgendwie ... irgendwie ...« Ihre Hände schienen etwas in der Luft greifen zu wollen, das nicht da war. »Irgendwie konnte ich mich nicht dagegen wehren, dass ich dich dann doch kommen gelassen hab' ... Ich hab' dir sogar die Tür aufgemacht ... Ich verstehe das nicht!« Sie legte das Gesicht in die Hände, die Ellbogen auf den Knien abgestützt. Es klang gedämpft, als sie sagte: »Ich habe doch nicht gewollt, dass du kommst!«

»Wilhelm und Sandra ...«

»Die hatten einen Schlüssel! Ich wollte die nicht reinlassen! Aber Sandra ist meine beste Freundin, und Wilhelm ist – war – mein Freund. Die hatten beide einen Wohnungsschlüssel!«

»Ja, aber warum sind sie tot?«

»Ich weiß nicht!« Doro schrie wieder. »Wie oft soll ich das noch sagen? Ich weiß es nicht! Und außerdem – du bist auch tot! Fühl' doch mal deinen Puls!«

Thomas wollte die Fingerspitzen auf seine Halsschlagader pressen, aber er griff ins Leere. Eine gewaltige Wunde klaffte in seinem Hals; er griff durch bis in seine Luftröhre und wunderte sich darüber, wie wenig es ihn berührte. Er erkannte, dass er sich in einem Schockzustand befand, in dem eine Steigerung des Entsetzens unmöglich war.

Knisternd entzündete Doro eine Zigarette. »Wenn du morgen Nacht aufwachst, wird die Wunde verschwunden sein, zumindest, wenn es bei dir genauso ist wie bei mir. Das ist immerhin ein Vorteil. Und der Lungenkrebs kann einem jetzt wohl auch egal sein.« Freudlos auflachend stieß sie den Rauch aus.

Nachdenklich stand Thomas auf. »Ist dir das gleichgültig, dass du solche Scherze darüber machst?« Es war ein Fehler, das erkannte er schon in dem Moment, in dem er es sagte.

Stumm sah Doro ihn an. »Nein, es ist mir nicht egal. Wie könnte es das? Aber – wenn du darüber nachdenkst – was soll ich machen? Ich kann nichts machen! Ich kann noch nicht mal mehr weinen! Ich bin eine Leiche, Thomas, und du bist es auch, und Leichen haben keine Tränen.«

Thomas war ratlos. In seinem Kopf war eine große Leere. Von einem Moment zum nächsten war er aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen worden. Jetzt war er – was war er?

Er ging die wenigen Schritte und setzte sich neben Doro auf das Sofa.

»Sind wir jetzt Vampire?«

Doro schien einen Augenblick nachzudenken. Noch vor wenigen Tagen war sie der spontanste Mensch gewesen, den Thomas kannte, mit einem niemals müden Mundwerk, nie um eine Antwort verlegen. Aber jetzt, in ihrem neuen Zustand, schienen für Antworten selbst auf die einfachsten Fragen gründliche Überlegungen notwendig zu sein.

Sie zuckte mit den Schultern, in einer Geste, die so gar nicht zu der Tragweite der Antwort passte. »Ich denke schon.« Sie wandte den Kopf zur Seite, bis sie ihm tief in die Augen sehen konnte. »Ja.«

Er nickte. Was ihn am meisten befremdete, war nicht die Tatsache an sich, nicht die Erkenntnis, dass ein Albtraum aus den Schundromanen und Märchenbüchern entgegen allem, was er als Realität anerkannte, Gestalt angenommen und Besitz von ihm ergriffen hatte. Was ihn wirklich nachdenklich stimmte, war seine eigene Teilnahmslosigkeit. Es war fast so, als würde er neben sich stehen und als Beobachter an seinem Schicksal teilnehmen. »Wie war es bei dir?«, fragte er.

Doro zog an der Zigarette, dann drückte sie die hell leuchtende Spitze auf dem Sofabezug aus und lächelte ihn an. »Es ist fast eine Woche her. Ich war in Düsseldorf. Eine ganz normale Reportage von einer Sitzung im Landesparlament. Ich hatte sogar Glück und konnte einen von den Abgeordneten bequatschen, hinterher mit mir in ein Café zu gehen und etwas über die Position seiner Fraktion zu erzählen. Wäre ein wirklich guter Artikel geworden ...

Jedenfalls wurde es recht spät. Im Zug habe ich schon mit dem Schreiben angefangen, es war leer genug, sodass ich Platz hatte.

Und dann, in Köln am Hauptbahnhof, ist es passiert. Es war total menschenleer, so wie immer nachts. Ich war auf dem Weg von den Gleisen zur U-Bahn. Und dann hat er mich überfallen. Er hat mich von hinten gepackt und auf den Boden geworfen. Verdammt, ich dachte, er wollte mich vergewaltigen. Ich war so geschockt, dass ich noch nicht mal schreien konnte. Aber immerhin habe ich versucht, mich zu wehren. Ich habe geschlagen und getreten, so gut ich konnte, aber ich lag halb auf dem Bauch. Es ging sehr schnell. Er hat mir den Arm aufgerissen mit seinen Zähnen. Es hat höllisch weh getan; danach kann ich mich an nichts mehr erinnern, bis ich mich verwandelt habe. Wahrscheinlich so wie du, auch wenn ich nur noch weiß, dass es verdammt weh tat.

Ich hab' mich dann aufgerappelt. Du kannst dir ja vorstellen, wie ich mich gefühlt hab', als ich mein Spiegelbild im Schaufenster der Parfümerie sah. Thomas, ich war fertig, wusste echt nicht, was ich tun sollte. Irgendwie habe ich versucht, mir einzureden, das alles wäre nur ein Albtraum und ich würde bald aufwachen.

Aber das war es nicht.

Ich bin dann losgestolpert, zu Fuß durch die Nacht. Die Straßen waren ziemlich leer, und wenn mir doch jemand entgegen kam, habe ich mich versteckt. Du weißt ja, wie das ist, nachts in der Stadt: Wenn du schon jemandem begegnest, vermeidest du Blickkontakt, du willst ja nicht den Falschen provozieren. Darum hat wohl keiner gesehen, was mit mir passiert ist. War wohl auch besser für die Leute, die hätten den Schreck ihres Lebens gekriegt.

Jedenfalls bin ich so hierher gekommen. Und da hab' ich mich dann eingeschlossen. Weißt du, was als nächstes kam?«

Doro starrte ins Leere. Ihre Stimme bekam immer mehr den monotonen Sprachrhythmus eines Nachrichtensprechers. Thomas war sich nicht sicher, ob sie noch mit ihm sprach oder sich die ganze Sache einfach selbst noch einmal erzählte.

»Ich saß hier auf dem Sofa«, fuhr sie fort. »Eine Weile hab' ich einfach so hier gesessen und mich nicht getraut, meinen Arm anzusehen. Als ich es dann doch tat, wünschte ich mir sofort, ich hätte es gelassen. Er sah aus, als ob ein Wolf oder irgend so eine Bestie von ihm gefressen hätte. Ein einziger Fetzen. Das Fleisch war hell und blutleer.

Jedenfalls kam es mir nicht richtig vor, mich ins Bett zu legen, mit der Wunde und so. Bescheuert, nicht?« Sie lachte auf. »Aber mein Bett war für mich immer der Ort, wo ich schöne Sachen erlebt habe ... Du weißt schon ... und wo ich ganz sicher war ... Das wollte ich nicht besudeln ... Damit ...« Sie blickte ihn hilfesuchend an.

Er nickte.

»Ich hab' mich dann hier aufs Sofa gelegt. Auf einmal war ich nämlich furchtbar müde. Das wirst du auch noch kennen lernen – passiert immer, vielleicht eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang.

Ich war schon weg, war schon eingeschlafen, und dann auf einmal – zack! – stand ich senkrecht auf dem Sitz!«

»Jetzt sag' mir nicht, wegen der Sonne ...«

»Doch, wegen der Sonne! Sie war noch nicht mal aufgegangen! Aber der Himmel wurde schon heller. Hattest du schon einmal Panik? So richtig? Ich hatte Panik. Und ich war hellwach. Ich bin hier im Zimmer rum gerannt wie bescheuert, hab' mir die Haare gerauft. Es war, als ob mir jemand einen Liter Koffein gespritzt hätte. Dann bin ich raus in den Flur und ins Schlafzimmer. Und da ging es dann. Ich bin allmählich wieder runter gekommen.«

»Weil dein Schlafzimmer keine Fenster hat?«

»Vermutlich. Jedenfalls wurde ich wieder ruhiger. Ich hab' die Tür zu gezogen. Aber irgendwie hat das noch nicht gereicht. Erst, als ich mit den Decken und Kissen alle Ritzen verstopft und die Matratze dagegen gelehnt hatte, war es dann gut. Dabei scheint noch nicht mal in den Flur Licht, wenn die Tür zum Wohnzimmer zu ist! Aber das ist wohl so eine Trieb-Geschichte, hat wenig mit Nachdenken zu tun.

Jedenfalls – kaum, dass ich fertig war, habe ich mich dann auf den Teppich gelegt und bin sofort eingeschlafen. Und rate mal, wann ich aufgewacht bin!«

»Dann wohl nach Sonnenuntergang ...«

Sie nickte. »19:10 Uhr. Das ist ziemlich genau eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang.«

Er schüttelte den Kopf. Das wurde ihm jetzt doch alles zu viel. Aber sie schien es nicht zu bemerken.

»Mein Arm war verheilt. In der Nacht vorher war er eine einzige Wunde gewesen – und jetzt ...«

Sie schob den Ärmel hoch und hielt ihm den Unterarm hin, damit er ihn betrachten konnte. Thomas konnte keine Verletzung entdecken, hatte aber den Eindruck, dass die Haut sehr bleich war. Allerdings konnte er das nicht so genau sagen; es war fast kein Licht in dem Raum und über allem lag dieser Rotschleier, der die Farben verfälschte, wenn auch nicht schluckte.

»Ich nehme an, dass es mit deinem Hals genauso gehen wird.«

Thomas schwieg. Die neuen Tatsachen wollten einfach nicht den Weg in den Teil seines Bewusstseins finden, in dem eine Stimme ihm sagte, dass es ihn wirklich betraf. Er nahm zur Kenntnis, dass er eine riesige Wunde am Hals hatte, dass sein Herz nicht mehr schlug, dass er vermutlich tot und wahrscheinlich sogar ein Vampir war – er dachte kurz über das Paradoxon nach, dass er wahrscheinlich etwas war, was es wahrscheinlich gar nicht gab – aber es hatte für ihn die Brisanz einer Zeitungsmeldung, nicht mehr. Sein Verstand weigerte sich, es als Teil seines eigenen Lebens zu akzeptieren.

»Und dann kam Sandra?«, fragte er.

Doro stieß geräuschvoll den Rauch des letzten Zuges aus und schüttelte den Kopf. »Nicht in dieser Nacht. Ich war allein, die von der Redaktion hatten auf den Anrufbeantworter gesprochen, sonst passierte nichts. Ich stellte mich unter die Dusche, mindestens eine Stunde. Es hat mich früher immer beruhigt, aber in dieser Nacht musste es mich nicht beruhigen. Ich war gar nicht unruhig.«

Er nickte. »Bei mir ist es das selbe ...«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht so eine Art Selbstschutz. – Ich habe mir dann sogar Spiegeleier gebraten und versucht, sie zu essen, nur um zu probieren, ob das geht. Du weißt ja, man liest so allerhand über Vampire.«

»Und?«

Sie zog an ihrer Zigarette. »Es hat nicht funktioniert. Ich habe keinen Bissen runtergekriegt.«

Knisternd erlosch die Glut zwischen ihrem Daumen und dem Sofabezug.

»Dabei kochst du doch gar nicht so schlecht.«

Einen Moment schwiegen sie, dann mussten beide lachen. Es tat gut, so lange es dauerte.

»In der Nacht danach kam dann Sandra.« Doro war wieder sehr ernst. »Oder, besser gesagt, sie war schon da. Sie hatte sich selbst reingelassen. Sie hat gemerkt, dass ich im Schlafzimmer war und ist durchgegangen ins Wohnzimmer, wollte wohl warten, bis ich aufwache und sich so lange eine Soap ansehen.

Kennst du dieses Gefühl, wenn der Speichel sich in deinem Mund sammelt, und wenn du schluckst, ist er sofort wieder voll, so schnell fließt es?«

Sie fingerte eine neue Zigarette aus der Schachtel.

»So ungefähr war es, als ich aufwachte. Mensch, ich hatte Hunger, und ich konnte sie riechen, ihr Blut, durch zwei Türen und den Flur! Aber ich wusste nicht, was es war. Ich wusste ja nicht einmal, dass sie da war. Ich wusste nur, dass ich zu ihr musste. Sofort. Ohne Verzögerung.

Ich glaube, ich habe sogar geknurrt, als ich die Matratze und die Kissen von der Tür weg zerrte. Wenn du in meinem Schlafzimmer guckst, wirst du die Kratzer auf der Holztür sehen, an der Innenseite. Ich war so hektisch, dass ich nicht gleich auf die Idee gekommen bin, die Klinke runterzudrücken, und meine Krallen benutzt habe.«

»Krallen?«

Sie blies ihm den Rauch ins Gesicht und blickte ihn an wie eine große Schwester, die das Leben kennt, im Gegensatz zu ihrem vorpubertären Bruder. Erst jetzt fiel ihm die Veränderung ihrer Fingernägel auf. Sie waren spitz, lang und breit, rissig und sahen metallisch hart aus.

»Ich habe keine«, murmelte er und besah sich seine eigenen Fingerspitzen.

»Wart's ab!

Jedenfalls hatte ich die Tür dann endlich auf und stand im Flur. Dort habe ich wirklich geknurrt, da bin ich mir ziemlich sicher. Sandra hatte etwas gehört und öffnete die Wohnzimmertür.

Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich auf dem Boden saß, mitten in Fetzen von Fleisch, und an einem Knochen nagte ... Mensch, es war Sandras Schienbein!«

Doro starrte ins Leere.

Thomas nahm sich vor, keinen Blick hinter das Sofa zu werfen.

»In der Nacht danach habe ich ein paar Stunden darauf verwendet, alles sauber zu machen. Der ganze Boden war versaut, die Wand, der Läufer ...

Oh Gott, ich habe meine beste Freundin umgebracht, und dann mache ich mir Sorgen, dass meine Wohnung dreckig ist! Wir kannten uns seit dem Kindergarten! Sie wusste alles, alles, von mir und ich von ihr.« Doro stöhnte. »Sie hat mir vertraut. Und ich habe sie ermordet. Ich habe sie sogar gefressen, wie eine Kannibalin!«

»Du hast ihr ... Fleisch ... gefressen?«

»Du meinst, weil man sagt, dass Vampire doch nur Blut trinken? Technisch betrachtet hast du wahrscheinlich Recht. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, auf welche Weise es geschah. Jedenfalls habe ich ihr Fleisch von den Knochen gezogen, das ist Tatsache. Vermutlich habe ich dann nur an den Fetzen gesaugt, bis sie blutleer waren. Das habe ich nämlich vorgestern Nacht auch gemacht, als ich Sandras Leiche hinter das Sofa gepackt hatte und dann der Hunger wiederkam. Ich habe in dem gewühlt, was einmal Sandra gewesen war, mir die Brocken in den Mund gesteckt, sie ausgesaugt und dann wieder ausgespuckt. Aber macht es das besser?«

»Wohl nicht.«

»Nein, wohl wirklich nicht.

Gestern Nacht kam dann Wilhelm. Wilhelm.

Irgendwie hatte ich mich besser unter Kontrolle. Ich kann mich an alles erinnern. Auch daran, dass ich es eigentlich nicht tun wollte.

Ich habe ihm den Hals aufgerissen, so wie dir. Ich konnte eine ganze Weile davon trinken, sein Herz schlug noch lang, auch wenn er wohl schon tot war.«

»Geht das?«

»Was weiß ich. Jedenfalls kam das Blut in Stößen aus der Ader, aber er rührte sich nicht, wie ein Toter eben.

Kurz vor Morgengrauen bin ich dann noch einmal in die Küche gegangen und habe das Blut, das auf die Fliesen gelaufen war, aufgeleckt. Ich habe es aufgeleckt, wie ein Hund. Oder besser: Ich wollte es, aber irgendwie kam es mir dann doch nicht richtig vor. Auf der einen Seite dachte ich mir: Er ist doch sowieso schon tot. Aber dann hat wohl doch mein Gewissen gesiegt. Obwohl der Hunger sich wieder regte, fand ich keinen Geschmack mehr an seinem Blut.«

Thomas schwieg. Er bemerkte ein leichtes, flatterhaftes Zittern der Finger seiner rechten Hand. Vielleicht drang die Wirklichkeit jetzt doch ganz langsam, aber beständig zu seinem Ich durch?

»Und als du Wilhelm ...«

»Ich habe ihn nie geliebt. Nie wirklich.« Doro sah ihn an. »Ich habe es hinterher gemerkt. Hältst du mich jetzt für einen schlechten Menschen?«

Thomas musterte sie nachdenklich. Er schüttelte langsam den Kopf.

Gerade wollte er etwas erwidern, als das Klingeln seines Handys durch den Raum schrillte. Das Display leuchtete in Doros Hand auf. Vermutlich hatte sie ihm das Gerät abgenommen, als er ohnmächtig gewesen war.

»Es ist Epi«, sagte sie. »Sie hat schon viermal angerufen, die ersten beiden Male aus dem Institut, dann zweimal von zu Hause. Ich nehme an, sie ist sauer. Auf meinen Anrufbeantworter hat sie heute auch schon gesprochen. Sie will wissen, ob ich dich gesehen habe, ihr wäret zum Kino verabredet gewesen.«

Stumm reichte sie ihm das Gerät.

Er musterte die Nummer im Anzeigefeld und ließ es fünfmal Klingeln.

Fünf Klingeltöne, in denen er von seinem Leben Abschied nahm.

Dann drückte er auf die Aus-Taste.



Entnommen aus:
Sanguis B. Vampire erobern Köln
van Aaken Verlag 2005
ISBN: 3-938244-09-7