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Angriffskrieg

Leseprobe Angriffskrieg: Savitarstraße, Ilapsur

Hier das Kapitel Savitarstraße, Ilapsur aus meinem Roman Angriffskrieg. Wer nicht online lesen möchte, kann es auch als pdf herunterladen.


Kapitel 4: Savitarstraße, Ilapsur, Herbst, 13. Tag des Pegasusmondes im 33. Jahr nach dem 20. Auftauchen des Poschos Karafat

Sometimes
Love Is A Loaded Gun
And It Shoots To Kill.
Alice Cooper

Hemran hastete bergan über das sorgsam verlegte Kopfsteinpflaster an den Savitarschreinen vorbei, deren Lichter alle zwanzig Schritt den Weg erhellten. Immer, wenn er zu einem Treffen des Bundes der Gestalt unterwegs war, befürchtete er, zu spät zu kommen. Meistens war er einer der ersten.

Vor einer hohen Tür aus rotem Holz, bemalt mit Dutzenden von violetten Sternen, rückte er seinen Mantel zurecht, nestelte an den weißen Handschuhen und strich voll Vorfreude die Weste glatt. Mit einem nervösen Blick vergewisserte er sich, dass der kleine Hammer und der Meißel – beide für einen Vaisravana-Priester passend aus Gold und einem der edelsten Hölzer aus Nagars Urwald gefertigt – ordentlich an seinem Gürtel hingen. Dann klopfte er entschlossen an.

Hemran war nicht klein, aber er musste den Kopf in den Nacken legen, um dem pechschwarzen Hausdiener, der ihm öffnete, ins Gesicht sehen zu können. Der Hüne hatte ein Gesicht wie einer jener Gorillas, die in den Wäldern dazu neigten, aus Langeweile Bäume zu entwurzeln, und seine tiefliegenden Augen schienen sagen zu wollen: »Wenn mich die Wut packt, dann mögen dir die Götter gnädig sein!« Das liebevoll gesäuselte »Wen darf ich melden?« wollte zu dieser Erscheinung so gar nicht passen. Seine Stimme klang kehlig und fremdländisch.

»Hemran Kalabas.« Er lächelte unsicher.

Der Riese verbeugte sich leicht und streckte den Unterarm vor, um den Mantel in Empfang zu nehmen. Dann schritt er gemessen voran durch einen mit gutem Klingol-Marmor ausgelegten Flur bis zu einem gepflegten, von glatten Säulen umsäumten Innengarten. Zwischen den Pfeilern standen Schalen mit ruhig brennenden Feuern und leuchteten einige Schritt weit die Farne und Büsche an, die im Zentrum des Gartens, wo der Springbrunnen stand, immer mehr ins Grau und Blau des Sternenlichtes wechselten. Die im Schein der Sonne gelben und roten Blüten schimmerten in verzaubertem Purpur und unwirklichem Violett.

Die Nacht war lau und Insekten zirpten. Bedienstete trugen Tabletts mit Früchten und Säften zwischen den Gästen umher, die allmählich eintrafen. »Hört, hört! Hemran Kalabas gibt sich die Ehre!« Diesmal dröhnte der Bass des Schwarzen so tief, wie seine Gestalt es erwarten ließ. Die Anwesenden sahen kurz auf und nickten dem Neuankömmling wohlwollend zu, bevor sie sich wieder ihren Gesprächen zuwandten.

Hemran nahm ein Kristallglas, in dem eine grüne Flüssigkeit auf einer gelben schwamm, ohne dass diese sich vermischten. Er kostete den süß-sauren Geschmack, während er sich überlegte, zu wem er sich gesellen sollte.

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Eine tiefe Frauenstimme rief seinen Namen, und schon bevor er sich ihr zuwandte, erkannt er Omjira, die Gastgeberin des Abends. »Hemran, welch' Freude, Euch zu sehen!«

Er lächelte säuerlich. »Die Freude ist natürlich ganz meinerseits. Das Auge des Drachen hat mit äußerstem Wohlwollen auf dem Baumeister geruht, der euer Haus so wohlproportioniert gebaut hat.«

»Wohlproportioniert? Es wundert mich, dass Ihr dieses Attribut an mein Haus noch vor meinem Körper vergebt!« Sie lächelte ein schmollendes Gesicht und schob die mit einem goldenen Band umfasste Hüfte kokett zur Seite, führte ihre grazilen Hände fließend vor ihren üppigen Brüsten herunter und streckte sie in einer einladenden Geste zur Seite. In der Tat bedeckte ihre bronzene Haut einen Körper, für den »wohlproportioniert« ein allzu zurückhaltender Ausdruck war. »Überproportioniert« hätte ihn an einigen bestimmten Stellen oberhalb ihrer Insektentaille vielleicht besser beschrieben. Hellrote Schals umhüllten ihn nur sehr bescheiden, was wiederum ein Attribut war, das weder auf Omjiras Charakter noch auf die Vielzahl ihrer goldenen Zeh-, Finger- und Ohrringe, noch auf ihren sexuellen Verbrauch an Männern jeden Alters passte. »Außerdem ist es in den kleinlichen Maßstäben von Besitz und Eigentum, die ihr Handelsmänner pflegt, genau genommen gar nicht mein Haus. Es ist eher eine Dauerleihgabe. Werde ich es noch erleben, dass etwas Euer Wohlgefallen findet, das einem Mädchen wie mir, das nur seinen Körper sein Eigen nennen darf, wirklich gehört?«

Es geht schon wieder los, dachte Hemran, aber er hatte gelernt, bei diesen Gelegenheiten ein Seufzen zu unterdrücken. »Nun, Ihr wisst: Ich bin gekommen, um etwas von Euch zu begutachten, und ich bin sicher, es wird mein Wohlgefallen finden!«

»Einen Körper aus Stein!«, nörgelte sie. Sie hakte sich bei ihm unter und führte ihn mit sanftem Druck zwischen den Säulen zurück in die Eingangshalle des Hauses. »Ich werde Euch zunächst noch etwas anderes zeigen. Meine neueste Errungenschaft.«

»Das letzte Mal, als Ihr mir eine ›neueste Errungenschaft‹ gezeigt habt, handelte es sich um eine dieser Ketten mit großen Perlen aus Attikarafar, die bei den Masseusen dort in sehr privaten Augenblicken Verwendung finden ...«

»Ja, interessant, nicht wahr? Leider sind wir damals nicht dazu gekommen, sie auszuprobieren!« Trotz – oder vielleicht wegen – des tiefen Blickes, den die einen Kopf kleinere Frau ihm aus den glitzernd ummalten Augen zuwarf, versuchte er, seinen Arm frei zu machen. Besitzergreifend klemmte sie ihn zwischen ihren Oberarm und ihren Busen. »Aber Hemran! Es ist doch nur ein Bild ...«

Nun gut, nur ein Bild, dachte Hemran und nahm sich vor, sich den Weg auf jeden Fall gut einzuprägen, damit er im Notfall schnell zurück zu den Gästen in den Garten flüchten konnte. Mit dem Stoff seines Handschuhs wischte er den ersten Schweiß von seiner Stirn unter dem sorgfältig gelegten Turban fort und zwang sich zu einem Lächeln.

Aber anscheinend hatte Omjira nicht die Absicht, sofort zum Angriff überzugehen. Sie begnügte sich mit einem für ihre Verhältnisse bescheidenen Körperkontakt, und auch das Bild hing nicht in einem Zimmer mit gedämpftem Licht und weichen Liegekissen, sondern an einer Wand der marmornen Eingangshalle. Vermutlich war Hemran vergleichsweise sicher, solange Omjira den Anlass des heutigen Abends noch nicht präsentiert hatte. Dieser Gedanke beruhigte ihn etwas.

»Es ist aus Chryseia!«, jubelte sie und hüpfte die letzten Schritte betont gut gelaunt auf ihren nackten Füßen zu der mit kräftigen Ölfarben bemalten und in einen edlen Rahmen gespannten Leinwand. Ihr Haar schimmerte im fremdartigen Glanz einer grünlichen Essenz, während es im Takt ihrer fließenden Bewegungen auf und nieder wippte. »Man hat mir gesagt, es sei von einem albyonischen Künstler hergestellt worden. Aber das weiß man natürlich nie so genau, was die Leute auf dem Basar einem so erzählen. Jedenfalls hat es mindestens die ganze Seereise von Ageniron aus bis nach Urassu durchgemacht und dann über staubige Straßen bis zum Markt in Ilapsur, wo ich es ergattern konnte, beziehungsweise jemand so freundlich war, es für mich zu ergattern. Und es ist nur ganz leicht beschädigt, nur in diesem Fleck dort sieht man ihm die Strapazen an. Vielleicht kommt er vom Salzwasser. Meint Ihr, man kann das wieder hinbekommen?«

Hemran zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Unsere Maler beherrschen diesen Stil wohl kaum ...«

»Da habt Ihr Recht! Ich habe überhaupt noch nie ein solches Bild gesehen!«

Das Gemälde zeigte ein junges Paar, das Hand in Hand lebenslustig einen begrünten Hügel herunterlief, während im oberen Teil die Sonne schien. Die fremdländische Kleidung – der Mann mit einem karierten Rock, die Frau mit einer seltsamen Haube – ließ die Herkunft des Künstlers erahnen, und die Tatsache, dass die beiden Figuren überhaupt Kleidung trugen, ließ Hemran hoffen, dass er bis zu der Präsentation nicht entscheidend bedrängt werden würde, denn das war für Kunstwerke, die Omjiras Interesse erregen konnten, recht außergewöhnlich. Was das Bild aber tatsächlich ungewöhnlich machte, war der Malstil. Die Figuren und auch der Baum an der rechten Seite des Bildes schienen aus der Leinwand herauszuragen. Hemran trat vor und besah es sich von der Seite, wobei er erkannte, dass die Oberfläche tatsächlich nicht mehr Unebenheiten aufwies, als von der aufgetragenen Farbe her zu erwarten waren. Er trat wieder einen Schritt zurück und betastete das Gemälde vorsichtig. »Das ist in der Tat erstaunlich«, murmelte er.

»Ja, nicht? Es ist direkt räumlich!«

»Eine optische Täuschung wahrscheinlich. Irgendein Trick mit der Perspektive. – Darf ich?«

»Aber bitte!«

Er nahm eine Öllampe aus einer Wandnische und hielt ihren Bronzespiegel dicht vor die Leinwand, um die Konturen genau auszuleuchten. »Es ist doch nicht ...?«

»Hemran, nun verderbt nicht alles!«, schmollte sie und spielte mit dem kleinen Hammer und Meißel, die an dem vergoldeten Kettchen um ihre Hüfte hingen. Warum erinnerte ihn die Form ihres Meißels nur an einen Phallus? Bestimmt nur ein Zufall.

»Habt Ihr es untersuchen lassen?«

»Nein, ich habe es nicht untersuchen lassen. Aber ich glaube nicht, dass es verhext ist. Ihr Händler seid so misstrauisch! Es ist eben ein guter Künstler, der es gemalt hat, und er hat ein großes Werk geschaffen. So etwas darf man nicht hinterfragen, sonst verliert es das Wunderbare.« Sie sah ihn mit gespielter Strenge an.

Er nickte widerstrebend.

»Hemran, findet Ihr nicht, dass der Bund der Gestalt sich vielleicht zu sehr begrenzt? Ich meine, dieses Bild ist doch auch räumlich, beinahe jedenfalls. Vielleicht, wenn man den Künstler ausfindig machen und seinen Strich weiterentwickeln könnte, vielleicht würde es dann noch besser, noch naturgetreuer.«

»Schon möglich. Aber es bleibt dennoch ein Bild, erfahrbar nur mit den Augen. Die Skulpturen, die wir schaffen, sind wirklich räumlich. Sie lassen sich betasten, befühlen ...«

»Betasten, befühlen ...«, meinte sie lasziv und näherte sich ihm mit aufreizenden Schritten, die Schultern zurückgenommen, so dass ihre Brüste noch weiter hervortraten. »Sprecht weiter ... Das interessiert mich ...«

Hemran räusperte sich. »Was ich meine, ist ... Na ja, Omjira, ihr wisst schon ... Es ist eine ganz andere Technik ...«

»Und welche Techniken beherrscht Ihr? Ich wäre sehr interessiert an einer Demonstration.« Ihr Augenaufschlag war eine Bewegung, die an die Fischer erinnerte, die ihre Netze auswarfen. Wenn sie geschickt waren, konnten sie ein ganzes Dutzend mit einem Mal in ihr Boot ziehen.

»Nun, ich verstehe nicht ganz, und ...«

»Ihr versteht nicht ganz?« Sie hielt ihn mit ihren großen Augen gebannt, so dass er sich ihrer Hand nicht entziehen konnte, als sie begann, seinen Nacken zu kraulen. »Dann lasst es mich Euch erklären. Ich habe es sicher schon oft getan, aber ihr Geschäftsleute habt ja den Kopf so voll mit diesen grässlichen, kalten Zahlen, da seid ihr in jeder anderen Hinsicht so vergesslich! Ihr wisst, ich bin eine glühende Verehrerin der Rati1

»Niemand bezweifelt, dass Ihr eine sehr fromme Frau seid.«

»Das ist wahr, aber manche sind nicht gerade hilfreich dabei, der Göttin den Dienst zu erweisen, der ihr gebührt.« Ihr aufreizender Duft stieg in seine Nase.

»Nun, bei der überwiegenden Mehrzahl der Männer dürfte dieses Problem sich doch wohl kaum stellen ...«

»Darum geht es nicht!«, fauchte sie, und er spürte ihre langen Fingernägel in seinem Nacken. »Ich habe Euch das schon tausendmal erklärt! Bei jeder Vereinigung fließt die spirituelle Energie zwischen den Liebenden, schaukelt sich in den Wellen der Ekstase auf und erschließt Potenziale, die vorher ungeahnt waren! In der Ergänzung der Kräfte liegt der Quell wahrer Stärke. Wenn Sturm und Flut zusammenkommen, kann jeder Damm gebrochen werden.«

»Und bin ich der Sturm oder die Flut?«

»Sucht es Euch aus! Wie wollt Ihr es? Ihr dürft bestimmen, auch wenn Ihr vermutlich mehr Vergnügen hättet, wenn Ihr mich entscheiden ließet und Euch einfach entspanntet. Ihr wisst, ich suche die Kraft des Erfolges. Ich habe mit Feldherren geschlafen, mit Handelsfürsten, Hohepriestern, Ratsmitgliedern. Ihr aber seid einer der erfolgreichsten Priester und zugleich einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner unserer Zeit! Eure Energie ...« Sie näherte sich ihm einschmeichelnd, fast bittend »Sie muss so stark sein ... So umschlingend ... So ergreifend ... So erobernd ...« Sie versuchte, seine Lippen zu sich herabzuziehen, »So durchbohrend ...«

Einem neuen Gast wurde geöffnet, und als Hemran den Namen hörte, mit dem sich die Dame bei dem Schwarzen anmeldete, schöpfte er wieder Hoffnung. »Ich behalte meine Energie lieber für mich«, haspelte er schnell. »Nantilis! Nantilis, wartet, ich will mit Euch sprechen!«

Jede von Nantilis' Bewegungen strahlte eine Anmut aus, die sie noch viel deutlicher als Angehörige des Hochadels kennzeichnete als die feine Bläue ihrer Haut. Jeder Schritt glich dem einer Königin, die sich gerade erst von der Krönung erhoben hat und die Reihen ihrer Ritter abnimmt. Ihre hohen Wangenknochen zeigten, dass sie nicht vollständig ranabarischer Abstammung war, und der Blick aus ihren dunklen Augen schien dazu zu sagen: Siehe, mein Adel ist von solcher Heiligkeit, dass nichts und niemand ihn verdünnen kann. Als die Ozeane Nekinadar tranken, querten meine Ahnen entschlossen das Meer. Von ruhmerfülltem Reich kündeten die Banner, die auf den Zinnen ihrer Burgen in Sunabar wehten, zum Wohle der Menschen dort. In den tiefsten Wirren der Finsternis zauderten sie nicht, das Volk zu Zehntausenden durch die Nebel zwischen den Welten bis nach Ranabar zu führen, um mit ihrem Blut eine Grenze gegen die Dunkelheit zu ziehen. Und vernehme: Das Blut der Hradjas, das ebenfalls in diesen Adern kreist, warf die Mythanenhexer aus dem Land, trieb den weißen Zaubergöttern Eisen durch das Fleisch und machte ihre Körper brennen, bis das Volk Freiheit atmete. Niemals konnten die Echsenhorden der Nagai, die Hazzon schon überrannt hatten, dieses Land meiner Vorfahren, auf dem wir stehen, ihr Eigen nennen. Wir sind die Führer und Schützer des Volkes; wer ihm ein Leid will, muss durch uns hindurch, und dafür erwies sich noch keiner als stark genug. Wir jagten die Longoten aus dem Land, die Qun und die Caswallonier. Wer will der Nächste sein?

Und dabei bewegte sie sich mit einer grazilen Leichtigkeit, die einer Fee Ehre gemacht hätte. Ihr schwarzes Haar fiel glatt und seidig schimmernd über den wohlgestalteten Rücken bis zur Taille, unter der sich nach dem sanften Schwung schmaler Hüften Beine anschlossen, die eines jeden Mannes Traum waren. Wie meist bei solchen Anlässen, trug sie ein albyonisches Ballkleid, das die schmalen Schultern frei ließ, und seidene Handschuhe, die über die Ellbogen reichten. Auf eine unerklärliche Art und Weise schaffte sie es, die Hände immer so zu halten, dass sie die Majestät ihres Körpers unaufdringlich, aber deutlich unterstrichen.

Mit einem Blick hatte sie die Situation erfasst. »Hemran!«, rief sie warmherzig, »Ich habe Eure Nachricht erhalten! Eine interessante Frage, die Ihr da aufwerft! Ich brenne darauf, sie mit Euch zu diskutieren!«

Mühsam befreite Hemran sich aus der Umarmung seiner Gastgeberin.

»Nantilis«, quetschte Omjira zwischen ihren Zähnen hervor, um ihre Fassung ringend, »schön, dass Ihr kommen konntet!«

»Ich bin immer wieder aufs Neue davon überrascht, wie elegant Ihr Euer Heim einzurichten versteht.«

»Oh, ich danke Euch für Eure freundlichen Worte!«

Nantilis nickte lächelnd. Dann nahm sie Hemran bei der Schulter und geleitete ihn in den Garten zurück.

»Das war knapp«, raunte er.

»Ich habe es gesehen. Manchmal übertreibt sie ihre Hingabe an die Göttin der Liebe ...«

»Manchmal? Wieso manchmal? Ich würde sagen: immer! Ich habe sie noch nie anders erlebt!«

»Ihr seid ja auch eines ihrer auserkorenen Ziele«, entgegnete die Zemindar schnippisch.

»Wenn Ihr nicht gekommen wäret, dann ...«

»... dann hätte Omjira über Euren Charme die gesamte Gesellschaft vergessen und der restliche Abend hätte sich verzögert!«

»Ich fürchte, so ist es.«

Sie lachten. Hemran mochte es, wenn Nantilis lachte. Er hatte sie vor etwa zwei Jahren kennen gelernt, im Gramanenpalast, als sie lachte.


Es war der Tag gewesen, an dem Hemran in den Handelsrat aufgenommen worden war. Er war der erste Kalabas, der eine solche Position hatte erreichen können. Und zugleich war es dieser Augenblick gewesen, der auch dem letzten Schläfer in der Welt des Goldes klargemacht hatte, dass man mit dem damals 26-Jährigen würde rechnen müssen.

Da die Tradition es gebot, dass jedes Mitglied sich noch am Tag der Ernennung dem Gramanen vorstellte, war er in den Palast des Herrschers gekommen. Ab und an war er schon hier gewesen, um mit den Beauftragten für Städtebau oder dem Haushofmeister um Kontrakte zu feilschen. Aber eine Audienz bei seiner Majestät hatte er noch nie erhalten. Obwohl er damals schon zweifellos zu kaltblütigen Überlegungen fähig gewesen war, hatte er sich an jenem Tag von seiner Abneigung gegen den Torhüter des Handelsrates leiten lassen. »Torhüter« war die Bezeichnung des Amtes, das seinem Inhaber ein erhebliches Mitspracherecht bei der Frage verschaffte, wer Sitz und Stimme in diesem wichtigen Gremium erhalten sollte. Und Hemran war der Meinung gewesen, wenigstens ein Jahr zu spät in den Rat berufen worden zu sein. Deswegen hatte er dem Torhüter seinerseits die traditionelle Aufgabe abgesprochen, das neue Ratsmitglied zum Gramanen zu geleiten, und diese Ehre selbstbewusst an seinen Freund und Berater Fenrasch übertragen. Natürlich hatte sich auch Fenrasch nicht im Palast ausgekannt, und sie hatten sich hoffnungslos verlaufen.

Sie waren durch hohe Hallen, endlose Gänge und prächtige Gärten gestolpert, zu verwirrt, um nach dem Weg zu fragen, waren von einer aufgebrachten Übungsleiterin aus den Proberäumen der Hoftänzerinnen vertrieben worden, schließlich, unvorsichtig eilend, durch eine enge Tür getreten und sofort eingeschlafen. Denn hinter der Tür befand sich der Raum, in dem der Hofgärtner die Setzlinge für die Rosen Durgas zog, jene göttlichen Pflanzen, deren Dornen den Tod und deren Duft den kleinen Tod, den Schlaf, brachten. In dem kleinen Raum hatte sich der Geruch so konzentriert, dass seine Wirkung sofort durchschlagend gewesen war.

Nantilis' Lachen war es gewesen, das die beiden aufgeweckt hatte. Von einigen Dienern hatte sie die Schläfer aus der verhängnisvollen Duftwolke ziehen lassen. Nun hatte sie dagestanden und es fertiggebracht, sich vor Lachen zu biegen und zu beugen und sich den Bauch zu halten und dennoch eine Würde auszustrahlen wie die Kaiserin auf dem Löwenthron von Magramor. Dieses Lachen war so ansteckend gewesen, dass den beiden Männern wenig später die Tränen in den Augen gestanden hatten.

Es hätte ewig so weitergehen können, aber dann war das Schweigen gekommen. Es war die Gänge des Palastes heraufgekrochen, zwischen den Säulen her, hatte die spielenden Hausdrachen zum Verstummen gebracht, hatte Gespräche ersterben lassen, hatte sogar das Rascheln von Blättern im Wind gedämpft, oder zumindest hatte es den Anschein gehabt. Das letzte Lachen war mit einer Kälte erstorben, die nicht aus der sichtbaren Welt gekommen war, denn sie war nicht von einem Wind getragen worden. Sie war einfach über alles gekommen.

In der Stille hatte er zum ersten Mal die gleichmäßigen Schritte des Gramans vernommen. So regelmäßig wie der Flügelschlag von Mühlen in beständigem Wind. Trotzdem war die Gestalt seiner Majestät noch überraschend gewesen. Eine alte, beinahe abgewetzte, dunkelblaue Kutte, die Hände in den Ärmeln verborgen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, das ganze Gewand nichts von der dürren Gestalt offenbarend, die es umhüllte. »Ihr seid das neue Mitglied meines Handelsrates.« Eine monotone Stimme schien die Worte über tausend Mazi ausgedörrte Wüsten an sein Ohr getragen zu haben. Es war eine Feststellung gewesen, keine Frage. So hatte Hemran den Gramanen kennen gelernt.

Und glücklicherweise hatte er Nantilis' Lachen später noch bei mancherlei Gelegenheiten hören können.


An diesem Abend in Omjiras Garten hörte sich das Lachen von Nantilis anders an als sonst. So freudlos, dass Hemran sofort aufmerkte. Sein Blick fand ihre Augen und sie wusste, dass er niemand war, vor dem sie sich verstellen wollte. Dennoch zögerte sie.

»Was ist es?«, tastete er.

Nantilis wich ihm aus und suchte mit ihrem Blick die Sterne, die sie ohnehin ständig in der Schwärze ihrer Augen trug. Sie hasste es, zur Rede gestellt zu werden; sie konnte es nicht leiden, wenn jemand erwartete, dass sie sich ihm offenbarte. Schon bevor sie gehen gelernt hatte, war sie weiter gereist als so mancher Hatti bis zu seiner Volljährigkeit. Sie hatte jahrelang in fremden Ländern gelebt, die um einiges wilder und gefährlicher waren als Hattica. Sie konnte auf sich aufpassen. Und diese Überzeugung war so fest in ihr, dass sie kein Problem damit hatte, sich jemandem wie Hemran anzuvertrauen, beschloss sie. Sie brauchte keine Angst davor zu haben, sich verletzlich zu machen, denn sie wusste sich stark genug, um heil aus jeder Lage wieder herauszukommen. Außerdem mochte sie den Priester.

»Es ist mein Vater«, flüsterte sie, nachdem sie sich zu seinem Ohr vorgebeugt hatte, »er ist krank.«

»Und – die Adschanta-Adepten2

Sie schüttelte den Kopf, und ihr hüftlanges Haar glitt in fließenden Wellen über ihren nackten Rücken. »Sie haben noch nichts gefunden. Die Wunder der Adepten wirken nicht. Aber sie wollen einen Priester schicken. Der soll sich die Sache ansehen. Es wird immer schlimmer. Erst war Vater nur schwach und appetitlos. Dann ...«

»Hochverehrte Gäste, die Gastgeberin bittet um Eure Aufmerksamkeit!«, dröhnte der Bass des Schwarzen.

Omjira strahlte über das ganze Gesicht. Sie genoss es, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Es war ein so unschuldiger Stolz, der zudem noch so fugenlos zu ihrer Ausstrahlung passte, dass Hemran sie in diesem Augenblick äußerst begehrenswert fand. Für einen Moment fragte er sich, wieso er immer so abweisend zu ihr war.

Omjira faltete in nervöser Vorfreude die Hände. »Ich finde ... nein. Em ... In diesem Mond bin ich eine der beiden Glücklichen, die das Treffen des Bundes der Gestalt ausrichten dürfen. Es freut mich daher sehr, dass Ihr so zahlreich erschienen seid um, em, um mein Werk, nein, den Fortschritt meines Werkes in Augenschein zu nehmen. Ich bitte Euch, em, ich möchte, dass Ihr nicht zu hart mit mir ins Gericht geht. Aber bitte sagt mir, wenn ich etwas falsch gemacht habe, damit ich es korrigieren kann. Es ist noch nicht fertig. Das habe ich, glaube ich, schon gesagt. Ach, ich bin so aufgeregt! Kommt her und seht es Euch an! Bitte! Kommt!«

Die Gesellschaft begab sich in die Empfangshalle. Dort stand nun ein großer Gegenstand auf einem hölzernen Tragepodest. Vier schwarze Hünen, nur wenig kleiner als der Diener, der sie empfangen hatte, standen abseits und schwitzten heftig, was keinen Zweifel daran ließ, wer die mit einer weiten Stoffbahn verhüllte Konstruktion hierher geschleppt hatte. Omjira trippelte zu dem Tuch. Ihre Hand zitterte sogar ein wenig, als sie danach griff. Die älteren Bundesmitglieder nickten ihr aufmunternd zu. Aber was half das schon? Sie alle hatten bereits wundervolle Werke geschaffen und waren anerkannt. Diejenigen, die nur unförmige Klumpen zustande gebracht hatten, waren nicht mehr im Bund. Und Omjira wollte im Bund der Gestalt bleiben! Sie wollte hier anerkannt sein! Die Leute hier waren so interessant! Mit allen konnte sie sich gut unterhalten; bislang war jedes Bundestreffen kurzweilig gewesen. Sie presste die Lippen aufeinander und schloss die Augen. Rati, lass meine Inspiration ausreichend gewesen sein, betete sie.

Dann zog sie mit einem schnellen Ruck das Tuch von der halbfertigen Statue. Mit einer raschen Bewegung knüllte sie es zusammen und entfernte sich so geschwind, als sei sie auf der Flucht.

Die Statue war – ungewöhnlich. Die meisten Anfänger suchten sich ein einzelnes Motiv aus, das von seiner Form her robust und einfach zu meißeln war. Beispielsweise eine Person in einem weit fallenden, zum Boden hin kegelförmig auseinander gehenden Gewand. Das garantierte von vornherein die Stabilität und reduzierte die zu bearbeitende Oberfläche. Zudem konnte man bei einem glatten Gewand nicht so viele Fehler machen und es war weniger aufwändig, also früher fertig. Schließlich wollte man schnell seine erste Statue vorweisen können.

Omjira hatte offensichtlich eine andere Strategie gewählt. Sie hatte sich für eine Personengruppe entschieden. Genauer gesagt: zwei Personen. Und die trugen auch keine weit fallenden Gewänder. Im Gegenteil: Sie waren splitterfasernackt, so viel konnte man schon erkennen.

Außerdem bearbeitete man eine Statue in der Regel von oben nach unten. Man arbeitete also oben schon einmal die Feinheiten aus, während man unten noch vergleichsweise unförmigen Stein hatte. Das sorgte für Stabilität während der Arbeiten.

Omjira war umgekehrt vorgegangen. Man konnte die muskulösen Schenkel der einen Figur erkennen, die Füße, wie sie sich mit den Zehen in den Boden krallten, und die wohl geformten Beine der anderen, wunderbar ausgearbeitete Hände auf die Knie gelegt. Und einen Phallus, der einem Saran alle Ehre gemacht hätte und die beiden Figuren miteinander verbinden würde. Weiter oben aber war der Stein nur grob in Form gebracht. Genaueres konnte man noch nicht erkennen.

Ein Raunen ging durch die Menge.

»Eine Kopulationsszene.« Nantilis pfiff anerkennend. »Sehr mutig.«

»Und sehr gut«, murmelte Hemran. Er ging zu der Skulptur und hockte sich davor auf den Boden, um die detailliert ausgemeißelten Zehen zu befühlen. Der Stein war natürlich noch sehr unregelmäßig, wie es immer bei einem Werk war, das noch in Arbeit war. Aber er war sehr sauber gemeißelt worden. Nirgendwo konnte Hemran erkennen, dass zu viel abgetragen worden wäre, und darauf kam es schließlich an. Außer bei den Hoden vielleicht, die im Vergleich zu dem übergroßen Genital doch sehr klein ausfielen.

Die Mitglieder des Bundes prüften das Werk sehr genau, beschauten und betasteten es von allen Seiten mit der ruhigen Neugier eines fachkundigen Publikums. Einer nach dem anderen schlugen sie mit ihren Meißeln symbolisch an noch unbearbeitete Stellen des Steins und machten die Skulptur damit zu einem Werk der Gemeinschaft.

»Eine sehr gute Arbeit, Omjira«, lobten die Erfahrenen. »Achtet darauf, dass Ihr den unteren Teil gut abstützt! Ich werde Euch eine Schriftrolle geben, die Gerüste beschreibt, wie sie für solche Zwecke verwendet werden. Und wenn Ihr mit der rohen Bearbeitung fertig seid – meldet Euch, dann werden wir Euch Rat geben für den letzten Schliff! Es wird ein wundervolles Werk sein, davon sind wir alle überzeugt. Wirklich eine sehr viel versprechende Arbeit, Omjira!«

Omjira lächelte stolz. Ihre Wangen färbten sich dunkel.

»Ich überlege, ob ich das Bildnis dem Rati-Tempel stiften soll, wenn es fertig ist. Natürlich nur, wenn es gut genug wird.«

»Ich zweifle nicht daran, dass es gut genug für den Tempel werden wird. Aber Ihr solltet bedenken, dass es Euer erstes Werk ist. Ich rate Euch, es bei Euch zu behalten. Es wird Euch immer daran erinnern, wie Ihr eine von uns geworden seid.«

»Eine vom Bund der Gestalt? Heißt das, ich bin endgültig aufgenommen?«

»Wir wollen nichts übereilen«, meinte der Alte ein wenig reserviert. »Noch ist es nicht vollendet. Aber ich gehe davon aus, dass Ihr in Eurem Eifer nicht nachlassen werdet. Und dann, wenn es fertig ist, werdet Ihr eine von uns sein. Vergesst nicht: Es geht nicht Schlag auf Schlag. Das Leben braucht Entwicklung, und das Schaffen des Werkes ist ein Weg, sich in das Abgebildete hineinzudenken. Man braucht Geduld dazu, und die scheint Ihr zu haben. Und man muss sich auf den Gegenstand seiner Kunst einlassen.«

»Oh, das tue ich«, beeilte Omjira sich zu versichern. »Dieses Bildnis drückt die Energie des Aktes aus, die Göttlichkeit des Vollzuges, die uns Rati näher bringt.«

»Göttlichkeit? Ihr werdet Euch in diesem Falle besondere Mühe geben müssen, den Figuren erleuchtete Gesichter zu geben.«

»Das werde ich.« Omjira nickte eifrig.

»Gesichter sind wirklich schwierig«, warf Nantilis ein. »Dort wird kein Fehler verziehen, man kann nichts kaschieren.«

»Oh, ich werde vorsichtig sein.«

»Ich sage das nicht, weil ich glauben würde, Ihr wäret der Aufgabe nicht gewachsen«, beeilte sich Nantilis zu versichern. »Es ist nur – erinnert Ihr Euch an meine Statue des albyonischen Kriegers?«

»Des Mannes mit dem Rock, der sich auf ein großes Schwert stützt?«

»Genau das. Erinnert Ihr Euch, welchen Gesichtsausdruck er hat?«

Omjira überlegte einen Moment. »Lächelt er nicht?«

»Genau. Er lächelt. Eigentlich hätte er grimmig schauen sollen, aber im falschen Moment ist mir der Meißel ausgerutscht, da musste ich irgendwie damit fertig werden. Zum Glück hatte ich die Augen noch nicht herausgearbeitet, so dass ich das Gesicht zu einem lächelnden umbauen konnte.«

»Das Lächeln sieht aber sehr gut aus«, meinte Hemran.

»Danke. Ich weiß auch nicht, was ich getan hätte, wenn das nicht mehr möglich gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte ich ganz von vorn anfangen müssen.«

Omjira musterte ihr Werk besorgt. »Vielleicht hätte ich doch oben anfangen sollen ... Wenn mir jetzt etwas gründlich misslingt, ist ein ganzer Mond Arbeit dahin ...«

»Es wird schon gut gehen.« Nantilis legte ihr freundschaftlich die Hand auf die Schulter. »Ihr müsst eben vorsichtig sein, dann wird es schon gelingen. Das nötige Talent habt Ihr ja ...«

»Danke.«

Als Omjira sich ihren anderen Gästen zugewandt hatte und es ruhiger um die beiden geworden war, fragte Hemran flüsternd: »Ihr wolltet mir noch etwas von Eurem Vater erzählen?«

Sofort wich der fröhliche Ausdruck aus dem Gesicht der Zemindar. »Ich bete jeden Tag zu Adschanta, dass er ihn noch nicht sterben lässt oder ihm wenigstens die Schmerzen nimmt. Am Anfang hat er gewimmert, dann geschrien, jetzt stöhnt und röchelt er nur noch.«

»Ist er bei Bewusstsein?«

»Ja, er denkt völlig klar. Aber das macht es nur noch schlimmer! Er kann sich kaum rühren und weiß, in welcher Lage er ist. Er fühlt sich so ohnmächtig, sagt er! Versteht Ihr, Hemran? Er hat jahrzehntelang ganz Ageniron bereist, und jetzt kann er seine Schlafkissen nur verlassen, wenn er von Dienern getragen wird!«

»Ich habe davon gehört, dass es nur wenige Diplomaten gibt, die weiter gereist sind als er ...«

»Wenige?« Nantilis lachte freudlos auf. »Gar keine, würde ich sagen! Mutter und er haben jedes Land in Ageniron gesehen. Wusstet Ihr, dass ich auf einem Ochsenkarren in Erainn geboren wurde?«

Der Name »Erainn« ließ Hemran an die Handelsdelegation denken, mit der er vor wenigen Gugai gespeist hatte. Er war wahrscheinlich der erste Geschäftsmann auf ranabarischem Boden gewesen, der mit ihnen verhandelt hatte, ein wesentlicher Faktor für erfolgreiche Geschäfte. Der Erste hatte immer einen Vorteil. Der Atem des frühen Drachen entzündet den Busch, wie das Volk sagte. Er war das Risiko eingegangen, den Gästen hattische Spezialitäten aufzutischen, und hatte vor allem mit dem Lassi3 Erfolg gehabt.

Nantilis verband andere Erinnerungen mit Erainn. »Die Hügel dort sind so dunkel und grün ... Immer stehen Wolken am Himmel, und es regnet beständig, den ganzen Tag und die ganze Nacht ... Nicht diese kurzen, heftigen Schauer wie hier ... Es ist fast wie Nebel ... Immer ist die Luft nass. Vater liebt dieses Land. Er liebt ohnehin jedes Land. Jeder Ort hat seine eigene Schönheit, sagt er. Und jetzt liegt er auf seinen Kissen und kann sich nicht rühren, während seine Haut immer weiter erbleicht und diese schwarzen Spitzen auf sein Herz zu kriechen ...«

Hastig wandte Hemran sich ab, damit Nantilis das Erschrecken auf seinem Gesicht nicht sah. Aber ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt und ihr Blick nahm ihre Umgebung nicht wahr.

»Diese Linien krochen unter seinem Haaransatz hervor und kamen aus seinen Finger- und Zehnägeln. Erst wuchsen sie sehr langsam ... Aber jetzt – eine Fingerbreite jeden Tag. Eine Fingerbreite, das klingt nicht viel, oder? Aber wenn nur noch so wenig Platz ist, bis sie sich über dem Herzen treffen, dann ist es eine rasende Geschwindigkeit. Ich habe jeden Morgen Angst, wenn ich nach ihm sehe. Jeden Morgen muss ich mich überwinden, um hinzusehen und zu erkennen, dass sie wieder weiter gekrochen sind. Aber vielleicht sollte ich mehr auf die Götter vertrauen, nicht wahr? Vielleicht werden sie auch einfach verschwinden und ...«

»Nein!« Ungewollt heftig griff Hemran nach Nantilis' Schultern und schüttelte sie. »Ihr müsst das ernst nehmen! Hört Ihr?«

Nantilis sah ihn verwirrt an. Verlegen ließ er sie los. »Ich meine – ich finde, Ihr solltet dafür sorgen, dass er noch einmal untersucht wird. Von einem Spezialisten, meine ich. Jemandem, der wirklich etwas davon versteht ...«

Sie nickte, aber dabei machte sie nicht den Eindruck, dass sie verstanden hätte. »Aber wen soll ich denn noch fragen? Wenn selbst die Adschanta-Adepten ...«

Hemran legte die Stirn in Falten. Es fiel Nantilis auf, dass Schweiß auf seinem Gesicht stand. Überhaupt schien ihre Schilderung ihn sehr berührt zu haben. Aber warum? War er vielleicht ...

»Vielleicht solltet Ihr Euch an Kabinas wenden? Er ist auch Adschanta-Priester!«

»Dass ich daran nicht gedacht habe! Da bin ich schon so lange im Bund der Gestalt, und in der Not vergesse ich den Bundesbruder, der mir helfen könnte!«

»Ich meine, vielleicht findet er etwas, was die anderen Adepten übersehen haben?«

»Ihr habt völlig Recht! Ich sollte ihn zu Rate ziehen! Habt Ihr ihn heute Abend schon gesehen?«

Hemran schüttelte den Kopf. »Der Rat der Hohepriester hat sich heute im Mitrah-Tempel getroffen. Vielleicht gehört Kabinas zur Gesandtschaft des Adschanta-Tempels. Wenn die Sitzung länger dauert, könnte es sein, dass sie noch nicht fertig sind ...«

»Ich werde gleich morgen nach ihm schicken!«

»Das Treffen wird noch vier Tage dauern«, murmelte Hemran nachdenklich.

Nantilis zuckte hilflos mit den Schultern. »Dann werde ich eben danach einen Boten zu ihm schicken.«

»Andererseits ...«, Hemran lächelte verschmitzt, »ich bin schließlich Konsul im Goldenen Konzil des Vaisravana ... Das muss doch auch mal zu etwas gut sein ... Mich werden sie bestimmt im Mitrah-Tempel vorlassen ...«

»Ihr würdet ...?«

»Ihr habt nicht zufällig Lust dazu, mich zum Mitrah-Tempel zu begleiten?«

Nantilis sog scharf die Luft ein. Es war der Traum jedes Mitgliedes des Bundes der Gestalt, den Tempel des Mitrah einmal von innen zu sehen, wo die Tausenden von Statuen stehen sollten, wie man sich erzählte. Schon in dem dem Volk zugänglichen Teil waren Skulpturen zu sehen, die in ihrer Vollkommenheit kaum zu übertreffen waren. Was mochten da die Versammlungsräume im Innern bergen? »Jetzt gleich?«, fragte sie.

Mit einem entschlossenen Lächeln nahm er ihre Hand und zog sie zur Tür. »Von uns Händlern sagt man, es gebe nur eines, was uns wichtiger sei als Gold.«

»Gesundheit?«

»Zeit!«


Omjira hatte ihnen einen Diener mit einer Fackel mitgegeben, obwohl das kaum nötig gewesen war. Sie hatten nur der Savitarstraße, die selbst in finsterster Nacht noch gut beleuchtet war, bergan folgen müssen, bis sie den Tempel des Sonnengottes erreicht hatten. Von dort war es nicht mehr weit zum Tempel des Mitrah gewesen, dem ältesten Tempel der Stadt, wie man sagte, obwohl sich die Berichte aus dem Zeitalter der Finsternis in dieser Frage widersprachen, wie eben in nahezu jeder Frage. Einige behaupteten sogar, der Tempel sei schon vor der Finsternis entstanden. Weit vor der Finsternis. Hemran hatte diese Theorien stets belächelt. Menschen neigten immer dazu, sich Wunder zu schaffen, indem sie historische Ereignisse in Zeiten und an Orte legten, die einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht zugänglich waren. Und da es nun einmal eine Tatsache war, dass die meisten Dämonen und Geister nicht die Kraft besaßen, in die Zeit vor der Finsternis zu schauen, war dies ein geeignetes Zeitalter für die Stückeschreiber, die auf ihren Bühnen mystifizierte Ammenmärchen aufführen wollten. Schließlich konnten auch die Rasuni4 nur unbelegbare Theorien über dieses Zeitalter äußern. Nachdenklich war Hemran erst geworden, als ein Hanumat5-Priester beiläufig geäußert hatte, es würden Schriftrollen existieren, auf denen geschrieben stehe, dass der Mitrah-Tempel der älteste von Menschen gebaute Tempel in ganz Hattica sei ...

Jedenfalls musste er recht früh gebaut worden sein, denn er stand sehr nah am Gipfel des Kegelberges, an dessen Hängen die Stadt sich emporwand, am isslichen Hang, so dass die Sonne ihn früher den ganzen Tag beschienen haben musste. Aber der Mitrah-Kult war inzwischen klein und beinahe unbedeutend – wenn man davon absah, dass sein Oberpriester traditionsgemäß Sitz und Stimme im Pankus hatte. Wenige Gläubige brachten Früchte und Blumenkränze in die alten Hallen. Und irgendwie schien die Priesterschaft auch nicht gewillt, etwas an diesem Umstand zu ändern. Sie hatte nicht protestiert, als der Tempel des mächtigen Sonnengottes Savitar, des Beschützers der Kinder und Verfluchers der Magier, seine Mauern zwischen das Heiligtum Mitrahs und die Sonne gestellt hatte. Nun lag der Mitrah-Tempel die meiste Zeit im Schatten, unmittelbar hinter dem Zentrum des Sonnenkultes in Hattica, so wie auch die Anhänger Mitrahs ein Schattendasein führten.

Die Savitarstraße endete am Tor des Savitartempels; Es wurde von zwei Bildnissen, die von Fabeltieren gezogene Quadrigen mit der Sonne im Schlepp zeigten, bewacht. Von hier waren es nur wenige Schritte durch das Dunkel, dann standen Nantilis, Hemran und der Diener mit der Fackel vor dem eisernen Tor. »Gedenke, dass du ein Mensch bist, und stehe aufrecht«, las Nantilis murmelnd die Inschrift darüber, während Hemran dem Diener dankte und ihn zu seiner Herrin zurückschickte.

»Der eiserne Gott«, meinte Hemran und fuhr das erhabene Relief auf dem Metall nach, das ein bärtiges Haupt darstellte.

»Der schlafende Gott«, erwiderte Nantilis mit einem weiteren Namen, der Mitrah zugesprochen wurde.

»Wollen wir?«

Die Zemindar holte noch einmal tief Luft. Wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was man sich erzählte, verbarg der Tempel den Eingang zu einer großen Höhle, in der Tausende von wundervollen Bildnissen lagerten, die die höchste Vollendung der Bildhauerkunst darstellten. Sie nickte mit gespannter Entschlossenheit.

Der schwere Türklopfer ließ ein weites Echo in dem großen Raum hinter dem Tor erschallen. Sofort wurde es mit quietschenden Angeln aufgezogen. Ein Kriegermönch mit eiserner Vollrüstung trat ihnen entgegen. Nebenbei bemerkte Nantilis, wie sehr sich diese Rüstung mit den gebogenen Stacheln auf den Schulterpartien, dem ausladenden Helm und den langen Sporen, die gemacht waren, um Drachen anzutreiben, von den eleganten agenirischen Fabrikaten unterschied. Wann war wohl zum letzten Mal ein solches Exemplar hergestellt worden? Oder wurden solche Rüstungen noch gefertigt – vielleicht hinter diesen alten Mauern?

Schwarzer, schwerer Rauch qualmte aus dem Tor in den Nachthimmel. An den Wänden der Halle konnte man tiefrote Feuer flackern sehen, die steinerne Giganten in ungleichmäßiges Licht tauchten. Die Hitze traf Nantilis und Hemran wie ein Windstoß aus glühender Wüste. Augenblicklich bildete sich feiner Schweiß auf ihren Gesichtern. Unwillkürlich griff Nantilis nach Hemrans Hand.

»Tagt der Rat der Priester noch?«, erkundigte sich der Zemindar.

»Jawohl, hoher Herr, so ist es.« Die Stimme des Kriegermönches erzeugte ein metallisches Hallen im Innern des Helms. Nantilis überlegte, wie lange er wohl in seinem eisernen Schwitzkasten aushalten musste, bis ein anderer kam und ihn ablöste. Er musste sich wie erlöst vorkommen, wenn jemand klopfte und so dafür sorgte, dass das Tor geöffnet wurde und frische Luft in den Tempel drang.

»Wir begehren, vorgelassen zu werden.«

Der Mönch zögerte. »Wen soll ich melden?«

»Ich bin Hemran Kalabas, Konsul im Goldenen Konzil des Vaisravana, des Gebieters über die Wellen des Weltenmeeres und über die Schätze der Welt«, er hob die Linke, um den goldenen Ring zu zeigen, der seine Worte bestätigt hätte, wenn dies nicht schon durch die Kette mit großen Drachenzähnen geschehen wäre, die er um den Hals trug, »und dies ist Nantilis Rabantis, Repräsentantin des Adelsrates im Pankus von Ilapsur.«

Der Mönch machte eilig ein paar Schritte rückwärts und zur Seite und deutete mit der obskur geformten Axt, die er vorher in der Armbeuge balanciert hatte, in das Innere. »Der Gott der Menschen heißt Euch willkommen, Hemran Kalabas, und Euch, Nantilis Rabantis.« Hemran grinste triumphierend.

Mit klappernden Schritten führte sie der Mönch unter den dunklen Schwaden, die sich unter der Decke sammelten, hindurch, während hinter ihnen das schwere Tor krachend verschlossen wurde. Die oberen Teile der titanischen Statuen an den Seiten der Halle verschwanden im Rauch der hohen Feuer, aber schon die schiere Größe der Bildnisse ließ Nantilis in bewundernder Betrachtung versinken. Im hinteren Teil der Halle waren sogar zwei Statuen zu sehen, die nicht aus Stein, sondern aus Eisen gefertigt waren. Das Alter hatte das Metall stumpf werden lassen, aber der matte Glanz konnte ihnen nur noch mehr Würde verleihen, als eine poliert blinkende Oberfläche es vermocht hätte. Strahlend blank aber waren die metallischen Adern aus Kupfer und Stahl, die sich zwischen den granitenen Steinen des Bodens dahinzogen.

Hemran und Nantilis wurden tief in das Innere des Tempels geführt, der tatsächlich in das Gestein des Berges hineingebaut sein musste. Unmittelbar hinter der Haupthalle gab es keine Öffnungen mehr, die nach außen führten. Über abwärts leitende, ausgetretene Stufen gelangten sie in kalte Räume, die mit Glut aus eisernen Becken spärlich erhellt wurden. Die wenigen Tempeldiener, denen sie hier begegneten, trugen keine Vollrüstungen, wenn auch alle metallene Schulterpanzer und Armschienen angelegt hatten. Man begegnete den Besuchern mit respektvollem Abstand.

Die beiden bedauerten es, dass die Kohlebecken mit ihrem schwachen Leuchten die Dunkelheit um die Statuen, die neben ihrem Weg aufgestellt waren, kaum zurückdrängten. Dadurch blieben ihnen jene Einzelheiten verborgen, die sie doch so gern in Augenschein genommen hätten ...

Auffällig jedenfalls war, dass es sich durchgängig um figürliche Darstellungen handelte, die Menschen abbildeten. »Der Gott der Menschen ...«, murmelte Hemran, als Nantilis ihre Hand auf seinen Arm legte und ihn stehen bleiben ließ. »Schaut nur!«

Sie befanden sich in einer großen Höhle. Irgendwo tropfte Wasser. Die Räume und Gänge waren auf dem letzten Teil der Strecke nicht gemauert, sondern aus dem Fels gehauen gewesen. Die Höhle erstreckte sich rund um sie herum. Von der Hängebrücke, auf der die drei Gestalten standen, konnte man weder die Wände, noch Decke oder Boden erkennen, was allerdings auch am spärlichen Licht liegen konnte. Die Brücke selbst bestand aus mit Kupferstreifen beschlagenen Holzstreben, die durch mehrere lange Ketten miteinander verbunden waren. Die Stiefel des Kriegermönches erzeugten ein metallisches Klappern auf ihnen, bis er stehen blieb, weil er bemerkte, dass die Besucher ihm nicht weiter folgten.

»Was habt Ihr?«, fragte Hemran.

»Seht doch nur!«

Aber erst, als Nantilis zwischen den Streben der Hängebrücke hindurch deutete, erkannte auch Hemran, woran die Enden der Konstruktion aufgehängt waren. Die über einen Agenakabar6 lange Brücke hing an den Fingern der gigantischsten Steinfigur, die Hemran je gesehen hatte. Direkt unter ihnen befand sich der in den Nacken gelegte Kopf der Figur und schaute mit nachdenklichem Gesichtsausdruck zu ihnen auf, während sich die Arme weit seitlich nach oben reckten, bis die Handrücken an den Felswänden der Höhle anlagen. Über den Fingern, zwischen denen die Brücke sich wie das Fadenspiel eines Kindes spannte, waren Öffnungen in den Fels gehauen, die in die Räume des Tempels führten. Auf den sich spannenden Muskeln der Arme waren Leuchtbecken platziert. Den beiden Mitgliedern des Bundes der Gestalt stockte ehrfürchtig der Atem. Das mathematisch geschulte Gehirn Hemrans begann automatisch damit, zu überschlagen, wie viele Metze wie lange hatten akribisch arbeiten müssen, um solch ein Werk zu schaffen. Da die Leuchtbecken nur auf Schultern und Armen standen, verlor sich der untere Teil der Figur in der Dunkelheit. Stand sie mit der Brust auf dem Boden? Oder war ein menschlicher Körper von der Hüfte an modelliert worden? Oder war der gesamte Torso dort unten? Oder – kaum auszudenken – die gesamte Figur, mit Beinen und Füßen, vielleicht auch einem Sockel? Waren die Arme irgendwie abgestützt, oder hatte man die Statik der Figur so berechnen können, dass sie frei in der Luft ihr eigenes Gewicht halten konnten?

Hemran wusste nicht, wie lange er gestanden hatte, als die wartende Gestalt des Kriegermönches wieder in seine Gedanken vordrang. Er räusperte sich.

»Nantilis. Wir sind aus einem bestimmten Anlass hier.«

Die Zemindar nickte abwesend und setzte träumerisch einen Fuß vor den anderen, den Blick nach unten, zwischen die Streben gerichtet, als die Dreiergruppe sich wieder in Bewegung setzte. Erst als sie die Brücke verlassen hatten, kehrte ihr Bewusstsein wieder zum Grund ihres Besuches zurück.

Eine Biegung später endete der Gang vor einer eisenbeschlagenen Tür, vor der zwei Gerüstete Wache standen. Ihr Führer grüßte, indem er die rechte Faust vor die Brust schlug – wie es auch beim Heer üblich ist, bemerkte Hemran –, wechselte einige Worte und tauschte einen Segenswunsch aus, dann klopfte eine der Wachen an und zog die Tür auf.

Der Raum dahinter war sehr funktional eingerichtet. Kohlebecken und vereinzelte Fackeln sorgten für eine an diesem Ort ungewöhnliche Helligkeit; ihr Rauch zog durch einige Löcher in der Decke ab, die eine erhebliche Strecke zurücklegen mussten, bis sie Luft und Sternenlicht erreichten. Von irgendwo schien auch Frischluft zugeführt zu werden, denn man konnte angenehm atmen. Hinter Wandteppichen und Bildern, die wohlgestaltete Handwerker bei der Arbeit zeigten – einen Schmied, einen Hausbauer, einen Bauern, einen Fischer, einen Steinmetz –, sah man das Gestein, in das der Raum gehauen war. Es war von grauen Adern durchzogen. Eisenerz, erkannte Nantilis. Es muss ewig gedauert haben, dem Berg einen Raum dieser Größe abzuringen. Aber es ist der perfekte Raum für solche Zusammenkünfte – das Eisen wird jede Magie fernhalten, niemand kann mit hexerischen Mitteln Einfluss nehmen oder Spionage treiben ...

Die Sitzkissen der Oberpriester waren in einem weiten Rund gruppiert. Hinter jedem Priester war Platz für zwei Angehörige der Gesandtschaft des jeweiligen Kultes, vor jedem Sitzkissen war ein kleines Schreibpult aufgestellt. Tempeldiener des Mitrah reichten Getränke.

Als die drei eintraten, wandten sich ihnen alle Blicke zu, denn solche Störungen waren ungewöhnlich. Der Kriegermönch, der sie geführt hatte, schlug scheppernd die Faust vor die Brust. »Hemran Kalabas, Konsul im Goldenen Konzil des Vaisravana, und Nantilis Rabantis, Mitglied im Pankus von Ilapsur, wünschen vorgelassen zu werden.«

Fragend schaute der Gastgeber auf Hemran. Als dieser das erwartungsvolle Gesicht von Sikaja, der Hohepriesterin seines eigenen Kultes, sah, kamen ihm Zweifel, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, den Adschanta-Priester noch in dieser Nacht aufzusuchen und den Rat der Priester zu stören. Hatte er sich von der Neugier auf die Bildnisse des Mitrah-Tempels leiten lassen? Vermutlich, zumindest ein Stück weit. Er dankte Vaisravana für diese Erkenntnis einer Schwäche und nahm sich vor, in Zukunft besonnener vorzugehen, auch wenn ...

Die grundlose Störung des wichtigen Gremiums würde mit Sicherheit einen Statusverlust für ihn in den höheren Kreisen bedeuten, aber das ließ sich jetzt nicht mehr vermeiden. Er schalt sich einen Narren. Warum hatte er nicht einen Diener mit einer Nachricht in den Raum geschickt, der den Adschanta-Priester unauffällig hätte herausbitten können, ohne das ganze Rund zu stören? Aber das war Vergangenheit, jetzt galt es, in der Gegenwart den Schaden für die Zukunft zu begrenzen. Hemran straffte die Schultern und versuchte, selbstbewusst zu wirken.

»Wegen einer dringenden Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet, begehre ich, den Adschanta-Priester Kabinas zu sprechen.«

»Hat er sich etwas gegenüber unserem Kult zu Schulden kommen lassen?«, erkundigte Sikaja sich mit einem scharfen Blick auf die Delegation des Adschanta-Kultes. Möglicherweise hatte es also in der vorhergehenden Debatte eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Kulten gegeben, schlussfolgerte Hemran. Oder Sikaja wollte bewusst diesen Eindruck bei ihm erwecken, um ihn zu Fehlschlüssen zu verleiten. Zwar arbeitete das Goldene Konzil stets zusammen, wenn es darum ging, den Kult zu vertreten; gleichzeitig aber waren seine Konsuln einander die schärfsten Konkurrenten. Wenn Hemran falsch einschätzte, mit wem Sikaja befreundet und mit wem sie verfeindet war, konnte das dazu führen, dass er zukünftig in dem verworrenen Spiel um Macht und Gold an den falschen Fäden zog. Er war viel zu erfahren in dieser Materie, um einer isolierten Information Vertrauen zu schenken.

»Nein«, wiegelte er ab, »es hat nichts mit dem Kult zu tun.«

Hemran bemerkte den missbilligenden Ausdruck auf Sikajas Gesicht. Alles hat mit dem Kult zu tun, hätte Sikaja jetzt gesagt, wenn sie allein gewesen wären. Und dann hätte sie ihr überragendes Predigertalent demonstriert, indem sie ihm dargelegt hätte, dass letztlich alles aus dem Reichtum schöpft und alles in den Reichtum mündet, Vaisravana der Gott des Reichtums ist, daher er der Quell ist, aus dem das Universum trinkt und es nichts, gar nichts, geben konnte, was mit seinem Kult »nichts zu tun habe«.

In Anbetracht der Versammlung aber rümpfte die Oberpriesterin nur die Nase.

»Können wir den ehrenwerten Konsul dann vielleicht zufrieden stellen, damit wir endlich fortfahren können?« Die Stimme des Jagannatha-Oberpriesters war schneidend. »Wir haben schließlich Wichtiges zu bereden und ...«

»Wagt es«, schrie Sikaja und sprang auf, »das Anliegen eines Konsuls im Goldenen Konzil des Vaisravana als unwichtig einzustufen, und ihr werdet lange an diese Nacht zurückdenken!«

Hemran kannte seine Oberpriesterin lange genug, um zu erkennen, dass sie nicht wirklich erregt war, auch wenn die anderen Anwesenden wegen ihres Ausbruchs unbehaglich zu Boden schauten. Sie wollte anscheinend nur erreichen, dass der Jagannatha-Kult einen Rückzieher machen und damit ein wenig an Gesicht verlieren sollte. Das war wenig überraschend; schließlich rivalisierten die Kulte schon eine geraume Weile.

»Das war nicht meine Absicht ...«, stotterte der Oberpriester des Gottes der Gerechtigkeit.

»Gut«, meinte Sikaja kalt und ließ sich mit einer umständlichen Geste wieder auf ihrem Sitzkissen nieder, »sehr gut.«

Stille breitete sich im Raum aus. Niemand schien etwas sagen zu wollen.

Hemran überlegte fieberhaft, ob er eine Begründung für sein Anliegen bringen sollte, während er sich äußerlich um einen überlegenen Ausdruck bemühte. Andererseits fiel ihm nichts ein, was nicht auf ihn zurückfallen würde. Sollte er ein »persönliches Anliegen« vorbringen? Und sich dann vorhalten lassen, dass er seine Person so wichtig nahm, dass er die Zeit der Oberpriester der Hauptstadt Hatticas verschwendete?

Nantilis erlöste sie alle. »Es ist eine Frage des Lebens ...« Ihre Stimme war weich und fest, vom gleichen Adel getragen, der ihre gesamte Gestalt umgab.

»Dann«, meinte der Oberpriester des Adschanta, vielleicht etwas zu schnell, »fällt es natürlich in das Hauptinteresse unseres Kultes, der dem Leben dient. Ich denke, für eine kurze Weile, sagen wir einen Chattak7, werde ich auf einen meiner Berater verzichten können.« Mit einer huldvollen Geste entließ er Kabinas, der Wie von einem Skorpion gestochen aufsprang und zu Hemran eilte, um mit ihm, Nantilis und dem Kriegermönch den Raum zu verlassen und die Tür so schnell wie möglich zuzuziehen.

»Bist du wahnsinnig?«, fauchte er. »Hast du eine Vorstellung davon, wie wichtig diese Verhandlungen sind? Du bist dir klar darüber, dass jeder da drin diesen Chattak ausnutzen wird, in dem der Adschanta-Kult um einen Berater geschwächt ist, um auf unsere Kosten eine Vereinbarung zu seinen Gunsten zu erzielen?«

Hemran blickte unwohl zu Boden. »Wir waren auf dem Bundestreffen ...«

Kabinas schnappte nach Luft. »Ich hoffe, du kommst nicht, um mich darauf hinzuweisen, dass ich dieses Treffen versäumt habe? Weißt du, ich kann da schon Prioritäten setzen.«

»Nein ...«

»Wir sind eigentlich wegen mir hier«, warf Nantilis kleinlaut ein. Die hängenden Schultern standen in einem ebenso merkwürdigen Gegensatz zu ihrer würdevollen Gestalt wie das albyonische Kleid mit seinem sonnenhellen Orange zu dem dunklen Gang, in dem sie standen.

Die beiden Männer starrten sie an. »Ich habe Euch schon auf einem Bundestreffen gesehen«, meinte Kabinas unbeholfen. »Leider habe ich Euren Namen bei der Vorstellung gerade nicht richtig verstanden ...«

»Nantilis Rabantis, Mitglied des Pankus von Ilapsur«, half die blecherne Stimme des Kriegermönches aus.

Nantilis hielt ihm die Hand in dem seidenen Handschuh entgegen.

»Du musst die Hand küssen«, raunte Hemran ihm ins Ohr, um ihn auf die in Ranabar nicht bekannte Sitte hinzuweisen. Als er es tat, stellte der Konsul fest, dass Nantilis' Zauber nicht nur bei ihm wirkte. Vielleicht wirkte sie generell anziehend auf Priester? Oder wohl einfach auf Männer, korrigierte er sich.

»Ihr müsst wissen«, Nantilis' Haltung hatte wieder zu ihrer königlichen Natur zurückgefunden und ihre dunklen Augen bannten Kabinas' Blick, »dass mein Vater krank ist. Seit einigen Gugai schon leidet er Schmerzen.«

»Schwarze Linien wandern auf sein Herz«, unterbrach Hemran sie hastig. »Sie wachsen aus den Fingernägeln und von den Zehen her und unter dem Haaransatz hervor und nähern sich immer weiter dem Herzen. Sie sind sehr dünn und laufen in Spitzen aus, wie Präriegras. Jeden Tag werden sie etwas länger. Die Haut wird immer bleicher.«

Kabinas hörte seinem Freund nachdenklich zu und schüttelte dann langsam den Kopf. »Von so einer Krankheit habe ich noch nie gehört.«

Hemran griff den Stoff seines Gewandes über der Brust. »Schau es dir an! Ihr habt doch eure heiligen Bücher, in denen du nachsehen kannst. Vielleicht findest du etwas!«

»Wisst Ihr«, fuhr Nantilis fort, »ein Adept Eures Kultes hat ihn bereits untersucht, aber er kommt nicht weiter ...«

»Vielleicht, weil er nur ein Adept ist!« Hemrans Stimme überschlug sich fast. »Kabinas, du bist ein Priester, und ein guter dazu! Schau ihn dir an! Bitte!«

Der Adschanta-Priester runzelte die Stirn und suchte in Nantilis' Gesicht eine Erklärung für das merkwürdige Verhalten seines Freundes. Er war verwirrt. Noch nie hatte er erlebt, dass Hemran so aus sich herausgegangen wäre.

»Nun gut«, meinte Kabinas. »Ich werde gleich morgen früh ...«

»Warum nicht jetzt noch?«, drängte der Konsul.

»Hemran! Wie stellst du dir das vor? Da drin tagt der Priesterrat. Ich werde nicht noch länger hier draußen bei euch bleiben können. Ich muss wieder hinein. Ich kann nicht mit euch kommen. Auf keinen Fall. Hörst du?«

»Aber ...«

»Schon gut«, meinte die Zemindar und lächelte ihm zu, während sie die Hand behutsam auf Hemrans Schulter legte. »Morgen früh also. Ich werde einen Laufburschen zum Adschanta-Tempel schicken, um Euch abzuholen.«

Kabinas nickte zustimmend, und Hemran ließ ihn los. Während der Adschanta-Priester sein Gewand glatt strich, meinte er zu dem Kriegermönch: »Ich wäre Euch verbunden, wenn Ihr dieses ganze Gespräch vergessen würdet.« Dann ließ er die Tür öffnen und begab sich wieder in den Tagungsraum.

Auf dem Weg zurück hatte Nantilis keinen Blick für die Statue unter der Hängebrücke. Schweigend gingen sie bis zum Ausgang, und erst auf der Savitarstraße fragte Nantilis: »Ihr wart sehr erregt, Hemran ...«

Er presste die Lippen aufeinander und starrte auf den nächtlichen Weg, der vor ihnen abfiel.

Einige Schritte später versuchte Nantilis es erneut. »Die Krankheit meines Vaters scheint Euch sehr nahe zu gehen.«

Er brummelte etwas, was sie nicht verstehen konnte.

»Dabei kennt Ihr ihn nicht einmal ...«

Wieder schwiegen sie für eine Weile.

»Andererseits kennt Ihr natürlich mich. Ich meine, wir haben nie besonders viel miteinander unternommen, aber ... Na ja, Ihr wisst, was ich meine ... Ich meine ...«

Hemran sah noch immer mürrisch vor sich hin. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr überhaupt zuhörte. Vielleicht war einfach der falsche Augenblick, um so etwas anzusprechen.

Mit wenigen Worten verabschiedeten sie sich, als sich ihre Wege trennten. Dann, als sie sich schon umgewandt hatte, rief er ihr nach. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn als dunkle Silhouette im Sternenlicht stehen.

»Mein Vater«, meinte er, »er hatte die gleiche Krankheit.«

»Und«, fragte sie hoffnungsvoll, »wie habt ihr sie überwunden?«

»Er starb.«

Hemran ging und ließ Nantilis allein zurück. Sehr allein.


1) Rati ist die Göttin der körperlichen Liebe und der Wollust. zurück
2) Die Priesterschaft des Adschanta, des Gottes des Lebens, kennt vielerlei Wunder gegen die Krankheiten der Welt. Daher gibt es in Ranabar so gut wie keine Kranken, es sei denn, die Krankheiten entstanden durch Wunden oder Parasitenbefall. Das Alter ist eines der wenigen Leiden, das die Adschanta-Priester nicht heilen – doch man munkelt, dass dies nicht daran liegt, dass sie es nicht vermöchten, sondern daran, dass sie sehr weise sind. zurück
3) Lassi ist ein Getränk auf Joghurtbasis. zurück
4) Ein Rasun ist ein Gelehrter, der an einer Rasuna unterrichtet; vergleichbar mit einem Professor. zurück
5) Hanumat ist der affenköpfige Gott des Wissens und der Weisheit. zurück
6) Ein Agenakabar entspricht 30 Metern. zurück
7) Ein Chattak entspricht 15 Minuten. zurück

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